62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
ist es. Erlaube ich Ihnen einmal, die Stadt zu verlassen, so haben Sie sich zur bestimmten Zeit wieder einzustellen und sich mit der Minute persönlich bei mir zu melden.“
„Das ist streng, sehr streng, Herr Kommissar!“
„Aber vom Gesetz vorgeschrieben.“
„Wenn mich nun mein Beruf oder mein Geschäft zu einer Reise veranlassen?“
„Ich werde nicht unbillig sein, muß aber Pünktlichkeit verlangen. Ferner haben Sie mir jeden Wohnungswechsel vorher zu melden. Und endlich haben Sie alle Fragen, welche meine Untergebenen an Sie richten, höflich und der Wahrheit gemäß zu beantworten.“
„Darf ich wissen, ob ich solche Fragen öfters zu beantworten haben werde?“
„Gewiß. In der ersten Zeit werden Sie täglich von einem Polizisten besucht werden.“
„In meiner Wohnung?“
„In Ihrer Wohnung oder bei Ihrem Arbeitgeber.“
„Wer wird mir aber unter solchen Verhältnissen Wohnung oder Arbeit geben?“
„Das ist Ihre Sache. Übrigens haben Sie abends punkt zehn Uhr in Ihrem Bett sich zu befinden. Es ist notwendig, daß meine Leute Sie kennenlernen; ich werde Sie jetzt hierbehalten. In einer Stunde ist Appell, bei welchem sich die Hälfte der hiesigen Polizeimannschaft versammelt. Ich werde Sie diesen Herren vorstellen. Morgen um dieselbe Zeit haben Sie sich abermals einzufinden, um der anderen Hälfte gezeigt zu werden.“
Die Augen des armen Buchbinders verdunkelten sich. Er hielt mit Mühe die Tränen zurück.
„Herr Kommissar“, sagte er, „ich komme mir vor wie ein Räuberhauptmann. Eine solche Strenge muß verbittern.“
Das intelligente Gesicht des Beamten zeigte einen teilnehmenden Ausdruck. Er antwortete:
„Ich mache Sie notgedrungen mit dem bekannt, was man von Ihnen fordert und erwartet. Im übrigen will ich Ihnen sagen, daß es mir keineswegs Vergnügen bereitet, einem Menschen das Leben schwerzumachen. Halten Sie sich gut, so ist es zu Ihrem Besten. Sehe ich, daß ich Ihnen Vertrauen schenken kann, so werden Sie bald nicht mehr bemerken, daß ich Sie beaufsichtigen lasse.“
„Ich danke Ihnen herzlich für diesen Trost! Sie werden keine Ursache finden, mich für einen schlechten Menschen zu halten.“
„Ich will das wünschen. Wo wohnen Sie?“
„Das weiß ich noch nicht. Ich will mir erst Arbeit suchen. Aber vielleicht bin ich bereits heute, am ersten Tage schon, gezwungen, einen Ihrer Befehle zu übertreten.“
„Wieso?“
„Wenn ich keine Arbeit und kein Unterkommen finde, so muß ich in der Herberge bleiben, und diese ist doch ein öffentliches Schanklokal, mir also verboten.“
„Nun, mit der Herberge will ich eine Ausnahme machen. Aber sehen Sie lieber, so bald wie möglich ein Privatunterkommen zu finden. Haben Sie denn keine Verwandten?“
„Nein.“
„Oder Bekannte, die sich Ihrer annehmen könnten?“
„Auch nicht. Einen alten Paten habe ich. Das ist wohl der einzige, von dem ich Teilnahme zu erwarten habe.“
„So gehen Sie hin zu ihm. Jetzt aber sind wir fertig. Gehen Sie hinaus ins Wartezimmer. Dort bleiben Sie, bis Sie zum Appell geführt werden!“
Heilmann gehorchte. Er saß eine Stunde lang draußen unter Aufsicht eines Gendarmen, der ihn sodann in einen Saal führte, wo er den versammelten Polizisten vorgestellt wurde. Sie betrachteten ihn mit Aufmerksamkeit, um sich sein Gesicht, seine Gestalt, sein ganzes Äußere einzuprägen, und dann wurde er für heute entlassen.
Als er aus dem Gebäude trat, holte er tief Atem. Es war ihm, als ob er jetzt von einem fürchterlichen Alpdrücken, von einer entsetzlichen Beängstigung erlöst worden sei.
„Was nun tun? Wohin sich wenden?“
Er beschloß, den alten Paten aufzusuchen. Zwar war der Sohn desselben gerade derjenige, dem er sein Unglück zu verdanken hatte, aber konnte der Vater dafür? Er wußte, wo der Alte wohnte. Dieser war auch Buchbinder und konnte ihm vielleicht Arbeit geben.
Er hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er überlegend stehen blieb. Er dachte an seine Geliebte. Sollte er nicht lieber diese aufsuchen? Aber wo fand er sie? Sie war Dienstmädchen gewesen. Vielleicht befand sie sich gar nicht mehr bei ihrer damaligen Herrschaft. Er setzte also seinen Weg fort.
In der Vorstadt lag das kleine Häuschen, welches seinem alten Paten gehörte. Dessen Sohn war sein Nebenbuhler und Nebengeselle gewesen – vielleicht –!
Er wagte den Gedanken gar nicht auszudenken und beschleunigte seine Schritte. Er fand das Häuschen. Die Haustür stand offen. Er trat
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