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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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ein. Gerade in demselben Augenblick kam eine junge Frau zur Hintertür herein. Beide sahen sich, beide blieben stehen, und beide stießen einen Ruf des Erstaunens, vielleicht des Schrecks aus.
    „Wilhelm!“ rief sie.
    „Anna!“ rief er.
    „Du hier?“ fragte sie. „Was willst du hier?“
    „Das möchte ich dich fragen, Anna. Was hast du hier in diesem Haus zu schaffen?“
    Sie blickte einen Augenblick lang verlegen zu Boden. Dann richtete sie ihre Augen wieder auf ihn, streng und vorwurfsvoll. Und in hartem Ton fragte sie:
    „Das weißt du nicht?“
    „Nein.“
    „Ich dachte, daß du es dir denken könntest!“
    Erst jetzt kam ihm die Erkenntnis. Er lehnte sich müd, müd, müd an die Wand.
    „Du hast geheiratet?“ fragte er.
    „Ja.“
    „Mein Gott! Wie konntest du mir das antun, Anna!“
    Sie trat einen Schritt näher und sagte:
    „Nein, sondern wie konntest du mir so etwas antun?“
    „Was denn?“
    „Das weißt du doch!“
    „Ich weiß es nicht. Ich habe dir nichts getan!“
    „Nicht? Ah, das sagst du noch!“
    „Ja, ich behaupte es. Was meinst du denn?“
    „Ich meine den – Diebstahl!“ stieß sie hervor.
    Er fuhr sich mit beiden Händen nach dem Herzen.
    „Den Diebstahl!“ stammelte er. „Den Diebstahl! Herr mein Gott. Also auch du, Anna, du! Glaubst du es denn wirklich, daß ich es gewesen bin?“
    „Wer sonst?“
    „Kein anderer als dein – ach Gott – dein Mann!“
    „Das hast du damals gesagt; es war eine Schlechtigkeit von dir! Man hat das Geld bei dir gefunden. Kannst du das etwa leugnen?“
    „Nein. Aber ich bin es doch nicht gewesen!“
    „Das glaubt dir niemand!“
    „Du auch nicht?“
    „Nein.“
    „So sind also meine Ahnungen und Befürchtungen eingetroffen. O Anna, Anna, du weißt nicht, wie unglücklich, wie elend ich jetzt bin!“
    „Du hast es dir nur selbst zuzuschreiben. Wann bist du entlassen worden?“
    „Heute früh.“
    „Wo wohnst du?“
    „Ich weiß es noch nicht.“
    „Und bei wem arbeitest du?“
    „Ich habe noch keinen Meister. Ich wollte mit dem Paten sprechen, und da – da traf ich dich.“
    „Mit deinem Paten? Der kann dir auch nicht helfen.“
    „Warum?“
    „Er hat das Geschäft meinem Mann übergeben.“
    „Ach so! Da werde ich freilich keine Arbeit erhalten!“
    „Nein. Mein Mann ist sehr bös auf dich zu sprechen, weil du damals die Schuld auf ihn hast schieben wollen. Ein Glück, daß er in diesem Augenblick nicht zu Hause ist. Es würde ein Mordsspektakel werden. Tu mir den Gefallen und geh!“
    „Ja, ich werde gehen, Anna! Du sollst meinetwegen keinen Zank haben. Mir ist's, als ob ich soeben gestorben sei! Ich will gehen. Grüße mir den Paten!“
    Ihr Gesicht verfinsterte sich.
    „Den?“ fragte sie. „Mit dem rede ich nicht!“
    „Nicht? Warum?“
    „Wer kann es mit diesem alten Menschen aushalten! Es wäre am besten, die lieben Engel hätten ihn!“
    „Wie kannst du so reden!“
    „Das verstehst du nicht. Er hat mir seitdem ich verheiratet bin, das Leben sauer genug gemacht. Jetzt hat er den Lohn erhalten. Der Schlag hat ihn gerührt.“
    Heilmann traute seinen Ohren nicht. War das die, welche er so liebgehabt hatte? War es möglich, daß diejenige, welcher sein Herz gehört hatte, so gefühllos sein konnte?
    „Der Schlag hat ihn getroffen?“ fragte er leise. „Wann?“
    „Vor sechs Wochen. Er ist gelähmt.“
    „Mein Gott, wie der brave Mann mich dauert.“
    „Brav? Ein Drache ist er! Bedauere ihn nur! Was hat es nur für Zank und Streit gekostet, ehe er uns das Geschäft und das Häuschen übergeben hat! Nun liegt er da, kann kein Glied rühren und ist doch nicht satt zu füttern.“
    „Wo ist er denn?“
    „Droben unter dem Dach.“
    „Bei dieser Kälte!“
    „Sollen wir ihn etwa in die Stube nehmen? Doch, das verstehst du nicht! Geh jetzt, geh! Mein Mann könnte kommen, und dann stehe ich für nichts ein.“
    „Ja, ich will gehen! Leb wohl, Anna! Gott verzeih dir, was ich dir heute verzeihe!“
    Sie antwortete nicht. Er drehte sich um und ging. Draußen aber blieb er nach einigen Schritten stehen.
    „Der Schlag getroffen – den guten Alten – oben liegt er unter dem Dach! Nein, es ist meine Pflicht! Ich muß einmal nach ihm sehen!“
    Er kehrte zurück. Die Tür stand noch offen, aber die Frau war fort. Jedenfalls befand sie sich jetzt in der Stube. Er stieg die Treppe empor und dann die Oberbodentreppe. Da, unter dem Dach, stand ein Bett. In demselben lag der Kranke. Die Lumpen, welche ihn

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