Die Katze, die hoch hinaus wollte: Roman
Die Nachricht, die Pickax City am frühen Morgen jenes kalten Novembertages erreichte, traf die kleine Gemeinde im Norden der Vereinigten Staaten wie ein eiskalter Guß. Der Polizeichef von Pickax, Andrew Brodie, war der erste, der von dem Autounfall erfuhr. Es war vierhundert Meilen weiter südlich passiert, in jener gefährlichen Gegend der Städte, die die Einheimischen den ›Süden unten‹ nannten. Die Polizei der Hauptstadt ersuchte Brodie um Hilfe bei der Suche nach den nächsten Angehörigen.
Das Opfer, sagten sie, sei auf einer vierspurigen Autobahn durch das Stadtzentrum unterwegs gewesen, als – wie Augenzeugen berichteten – die Insassen eines vorbeifahrenden Autos Schüsse auf ihn abgaben. Daraufhin verlor er die Kontrolle über sein Fahrzeug, das gegen eine Begrenzungs-mauer krachte und in Flammen aufging. Die Leiche des Fahrers war vollkommen verbrannt, doch mittels des Kennzeichens hatte man festgestellt, daß der Wagen auf James Qwilleran, zweiundfünfzig, aus Pickax City zugelassen war.
Mit schmerz- und wutverzerrtem Gesicht ließ Brodie seine schwielige Faust auf den Schreibtisch krachen. »Ich habe ihn gewarnt! Ich habe ihn gewarnt!« rief er.
Qwilleran hatte keine lebenden Verwandten; ein Anruf bei seinem Anwalt bestätigte das. Seine Familie bestand aus zwei Siamkatzen, doch seine Großfamilie umfaßte die gesamte Bevölkerung von Moose County. Mit seinem liebenswürdigen Wesen und seiner kauzigen Lebensphilosophie war der Ex-Journalist allen ans Herz gewachsen. Die Kolumne, die er für die lokale Zeitung schrieb, hatte ihm viele Bewunderer beschert. Sein üppiger Schnurrbart, die schweren Augenlider und die graumelierten Schläfen wirkten auf Frauen aller Altersgruppen sehr anziehend. Und als der reichste Junggeselle im Umkreis von drei Bezirken und grenzenloser Philanthrop war er für seine Mitbürger von größter Bedeutung.
Brodie rief auf der Stelle Arch Riker an, mit dem Qwilleran sein Leben lang befreundet gewesen war und der jetzt die Zeitung von Moose County herausgab. »Verdammt! Ich habe ihn vor diesem Großstadtdschungel gewarnt!« schrie der Polizeichef ins Telefon. »Er hat jetzt drei Jahre hier oben gewohnt und vergessen, daß das Leben im Süden unten wie Russisches Roulette ist!«
Geschockt und um Worte verlegen, murmelte Riker nüchtern: »Qwill wußte das ganz genau. Bevor er hier heraufzog, hat er fünfzig Jahre lang in Städten gelebt. Er und ich, wir sind in Chicago aufgewachsen.«
»Seit damals haben sich die Dinge geändert«, fauchte Brodie. »Mein Gott! Wissen Sie, was das bedeutet?«
Die Sache war die: Qwilleran hatte aus dem Nachlaß der Klingenschoens ein riesiges Vermögen geerbt – unter einer Bedingung: Er mußte fünf Jahre lang in Moose County leben, sonst würden die Klingenschoenschen Millionen – oder Milliarden – an andere Erben in einem anderen Staat gehen.
Bedrückt hörte sich Riker Brodies Tirade an und rief dann Polly Duncan an, die Frau in Qwillerans Leben. Für sie war die Nachricht ein furchtbarer Schock. Er selbst traf sofort Vorbereitungen, um in die Stadt hinunterzufliegen. Als der Zeitungsherausgeber seine eigene Redaktion und den lokalen Radiosender benachrichtigt hatte, glühten bereits die Telefonleitungen – die schlimme Botschaft wurde in Windeseile verbreitet, und eine Welle von Entsetzen und Trauer erfaßte Moose County. Tausende von Menschen würden seine Zeitungskolumne auf Seite zwei vermissen. Hunderte von Menschen würden den Anblick von Mister Qwilleran vermissen, wie er auf seinem Fahrrad über die Landstraßen fuhr oder mit langen Schritten und gelassener Miene durch das Zentrum von Pickax spazierte und höflich jeden Gruß erwiderte. Und allen war klar, daß es jetzt keine Stipendien, Zuschüsse und zinsenfreie Darlehen mehr geben würde. Warum, so fragten sie einander, war er so überstürzt in den Süden hinunter gefahren? Nur ein Mensch machte sich auch Sorgen um die Katzen. Seine Teilzeitsekretärin, Lori Bamba, rief: »Was wird jetzt aus Koko und Yum Yum?«
In Moose County gab es jede Menge Katzen: Mäusefänger, die in Scheunen wohnten, wilde Katzen und verwöhnte Haustiere – doch keine, die so verwöhnt waren wie die beiden Rassekatzen, die bei Qwilleran lebten, und keine, die so bemerkenswert war wie der Kater Kao K’o Kung, gewöhnlich Koko genannt. Mit seinen prächtigen Schnurrhaaren, den aristokratischen Ohren, der feinen Nase und dem unergründlichen Blick konnte Koko Unsichtbares sehen,
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