62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
habe“, meinte der Alte. „Sieh dir einmal die Uhr an! Wieviel ist sie wohl wert?“
Heilmann betrachtete sie und sagte:
„Es ist eine Spindeluhr, abgegriffen und ausgeleiert. Ich glaube, daß man nicht viel dafür bekommen wird.“
„Aber zwei Gulden doch wohl?“
„Vielleicht.“
„Ich verkaufe sie dir. Nimm sie für die zwei Gulden, die du mir geben willst.“
„Herr Pate!“
„Was?“
„Ich will das Geld Ihnen ja schenken!“
„Du bist selbst arm. Du bekommst nicht gleich Arbeit. Du brauchst das Geld ganz notwendig.“
„Aber es tut mir unendlich weh, die Uhr zu nehmen.“
„Nimm sie in Gottes Namen, sonst nehme ich das Geld nicht an. Sie ist dein.“
„Aber Ihr Sohn?“
„Was kann er dagegen haben, wenn ich die Uhr verkaufe?“
Heilmann widerstrebte; aber der Alte ließ nicht nach. Das Reden strengte ihn an, und meist nur um ihn von dieser Anstrengung zu befreien, sagte Heilmann:
„Gut, ich nehme die Uhr. Hier ist das Geld.“
„Aber verkaufe sie; verkaufe sie ja, damit du wieder Geld bekommst! Willst du mir das versprechen?“
„Ja.“
„Noch heute?“
„Noch heute.“
„So bin ich ruhig. Du wirst doch nun keinen so großen Schaden haben. Vielleicht bekommst du zwei Gulden.“
„Ich denke es.“
Im stillen aber sagte er sich, daß er wohl kaum einen einzigen erhalten werde.
„Lege das Geld in den Zigarrenkasten, wo die Uhr gelegen hat“, bat der Alte. „Und, lieber Wilhelm, ich möchte – hast du noch Zeit?“
„Ja, lieber Pate.“
„Willst du mir noch einen Gefallen tun?“
„Gern, wenn ich kann.“
„Es bekümmert sich kein Mensch um mich. Ich werde nicht wieder gesund, und – und – willst du nicht einmal das Gesangbuch aufschlagen?“
„Soll ich Ihnen etwas vorlesen?“
„Ja. Wirst du den Vers finden, der so anfängt: Es kann vor Abend anders werden?“
„Ich will sehen.“
Er schlug die Sterbelieder auf, suchte nach und sagte dann:
„Hier ist er; ich habe ihn.“
„Lies ihn vor, lieber Wilhelm!“
Die Stimme des Kranken war leiser geworden. Über sein eingefallenes Gesicht begann sich ein Zug rührender Milde auszubreiten. Heilmann las:
„Es kann vor Abend anders werden.
Als es am Morgen mit mir war.
Den einen Fuß hab' ich auf Erden,
Den andern auf der Totenbahr.
Ein kleiner Schritt ist nur dahin,
Wo ich der Würmer Speise bin.“
Er hielt inne. Der alte Buchbinder lächelte ihm leise zu und bat:
„Noch einen Vers, noch einen!“
Heilmann las:
„Dringt mir der letzte Stoß zum Herzen,
So schließe mir den Himmel auf,
Verkürze mir des Todes Schmerzen,
Und hole mich zu dir hinauf.
So ist mein Abschied keine Pein,
Und ich werd' ewig selig sein!“
Als jetzt der Vorleser seinen Blick vom Buch weg auf den Kranken richtete, hatte dieser die Augen geschlossen. Seine Lippen bewegten sich leise wie im Gebet. Und nach einiger Zeit erklang es flüsternd: „Es ist nun aus mit meinem Leben!“
Heilmann suchte dieses Lied und las:
„Es ist nun aus mit meinem Leben;
Gott nimmt es hin, der mir's gegeben,
Führt mich ins bess're Dasein ein.
Mein Lebenslicht ist ausgegangen
Zum Himmel eil' ich mit Verlangen,
Um ewig bei dem Herrn zu sein.
Es ist nun aus; es ist vollbracht.
Welt, gute Nacht!“
Er las langsam alle sechs Strophen dieses Sterbeliedes. Der Alte bewegte sich nicht. Als das Lied zu Ende war, wartete Heilmann noch eine Weile, dann neigte er sich über den alten Paten und horchte.
„Er schläft!“ flüsterte er. „Der Atem geht ruhig und ist kaum noch zu bemerken. Er hat sich einmal satt gegessen und wird nun weiterschlafen. Ich bin nun überflüssig; ich würde ihn höchstens stören und will lieber gehen. Morgen kann ich einmal wiederkommen.“
Er legte das Gesangbuch in den Kasten zurück. Als er die beiden Gulden erblickte, mußte er wieder an die Uhr denken.
„Was mache ich?“ fragte er sich. „Lege ich sie ihm wieder her, oder nehme ich sie mit? Mein ist sie nun. Wenn ich sie nicht nehme, so ärgert er sich. Ich kann sie ja verkaufen und ihm dann das Geld bringen. Ja, ich nehme sie!“
Er schlich sich leise fort und zur Treppe hinab. Eben, als er durch den Hausflur huschen wollte, wurde die Türe geöffnet, und die frühere Geliebte trat heraus. Sie erblickte ihn und schob mit erschrockenem Gesicht die Tür zu.
„Um Gottes willen!“ flüsterte sie. „Du wieder hier?“
„Ich bin noch gar nicht fort“, antwortete er.
„Ich sah dich doch gehen?“
„Nur bis hinaus vor die Tür. Dann dachte ich an den
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