62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Paten. Ich ging zurück und hinauf zu ihm.“
„Leise, leise! Mein Mann sitzt drin! Was hast du denn da oben zu suchen gehabt?“
Es überkam ihn der Zorn. Er antwortete:
„Es wäre besser, ihr suchtet auch etwas da oben. Der Alte verhungert und verfault ja ganz!“
Ihr Gesicht rötete sich.
„Was fällt dir ein?“ antwortete sie. „So ein Zuchthäusler wäre mir der rechte Kerl, uns Vorschriften zu machen! Pack dich fort, sonst schick ich meinen Mann heraus!“
Sie trat eilig in die Stube zurück, und er entfernte sich.
Er verwendete nun den ganzen Tag dazu, sich Arbeit zu suchen. Alle seine Bemühungen und Bitten waren vergebens. Kein Mensch wollte dem entlassenen Zuchthäusler, welcher noch dazu unter Polizeiaufsicht stand, Arbeit geben. Müde und geistig niedergeschlagen suchte er die Herberge auf, um sich auf dem Strohlager auszuruhen.
Als am Abend der Buchbinder mit seiner Frau beim Essen saß, fiel ihm doch einmal sein Vater ein.
„Warst du einmal beim Alten droben?“ fragte er.
„Nein.“
„Hat er nicht gerufen?“
„Ich habe nichts gehört.“
„Wenn er doch tot wäre! Aber, schaffe ihm doch einen Teller Suppe hinauf!“
„Ich? Am Abend? Da hinauf zu dem Alten? Da hinauf bringst du mich nicht! Und füttern soll ich ihn? Was geht er mich an? Geh du hinauf!“
Er wurde unwillig, aber sein Zanken half nichts. Er brannte also die Laterne an, nahm den kleinen Topf, in welchem sich einige Löffel Suppe befanden, und stieg die beiden Treppen hinan. Droben herrschte tiefe Stille.
„Vater!“ sagte er.
Kein Laut antwortete.
„Vater!“
Es blieb stille wie vorher.
Er trat an das Bett und leuchtete dem Alten in das Gesicht. Dieses zeigte ein ruhiges, beinahe kindlich liebliches Lächeln, aber auch den Charakter des Todes.
„Sapperment! Am Ende ist er gestorben!“
Er setzte den Topf weg und fühlte den Vater an.
„Wahrhaftig! Tot, ganz tot! Er muß schon vor längerer Zeit gestorben sein. Er ist ganz kalt und steif. Da muß ich doch gleich die Frau heraufholen!“
Dabei fiel sein Auge auf den Zigarrenkasten.
„Das ist das ganze Erbe! Das Gesangbuch und die alte tombakene Uhr. Die will ich – Donnerwetter!“
Er hatte das Gesangbuch herausgenommen und blickte nun erstaunt in das Kästchen.
„Zwei Gulden! So hat der alte Heuchler immer noch Geld gehabt! Das will ich nur gleich einstecken. Die Frau braucht nichts davon zu wissen. Das ist gleich für einen Skatabend und für Bier.“
Er steckte das Geld in die Tasche und suchte dann weiter:
„Aber die Uhr ist fort! Wo ist sie hin? Ich muß die Frau fragen. Vielleicht weiß sie es.“
Er ging hinab. Sie sah, daß er den Topf nicht mitbrachte.
„Hast doch das Geschirr stehen lassen!“ sagte sie.
„Das steht noch oben. Er hat die Suppe gar nicht gebraucht. Er braucht überhaupt keine mehr.“
„Was?“ fiel sie mit frohem Ton ein. „Ist er vielleicht tot?“
„Ja. Er muß ganz ruhig eingeschlafen sein.“
„Gott sei Dank!“
„Ja, Gott sei Dank! Nun sind wir endlich vollständig Herr im Haus! Aber, hat er dir etwas von der Uhr gesagt?“
„Nein.“
„Sie lag im Zigarrenkasten.“
„Bei dem Gesangbuch. Was ist mit ihr?“
„Sie ist nicht mehr da.“
„Das ist unmöglich! Sie muß da sein. Er konnte sich doch gar nicht bewegen! Er kann sie nicht weggenommen haben.“
„Aber sie ist dennoch fort. Komm, wir wollen suchen!“
„Suchen? Ich soll mit hinauf? Auf den Oberboden? Zu der Leiche? Jetzt, bei der Dunkelheit? Fällt mir gar nicht ein!“
„Du wirst aber doch mitgehen!“
„Nein! Ich fürchte mich!“
„Unsinn! Kein Toter tut etwas! Übrigens können wir ihn nicht so liegen lassen.“
„Warum denn nicht?“
„Wir müssen den Tod melden. Der Tischler kommt, den Sarg anzumessen, die Leichenfrau und der Totengräber kommen auch. Wenn sie ihn in diesen Betten und in diesem Schmutz finden, erheben sie ein Gerede, welches uns Schaden machen kann. Wir nehmen die Lappen weg, auf denen er liegt, und legen bessere Betten hinein. Das ist sehr nötig.“
„Hm! Recht kannst du haben.“
„Ganz gewiß! Also komm!“
Sie stiegen hinauf und hoben, so sehr die Frau sich auch scheute, die Leiche aus dem Bett, um ein besseres Lager zurechtzumachen. Dann wurde der Tote wieder hineingehoben. Als sie damit fertig waren, begann der Mann abermals nach der Uhr zu suchen, ohne sie jedoch zu finden.
„Das ist doch sonderbar!“ sagte er. „Ich weiß ganz genau, daß sie gestern noch da war.“
„Ich
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