62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
nicht bewußt werden konnte. Er blieb längere Zeit bei ihr, konnte aber doch nichts tun, als blutenden Herzens sich wieder entfernen.
Nun begab er sich nach der Wasserstraße Nummer elf. Er trat unten im Parterre bei dem Holzhacker Schubert ein. Dieser war nicht daheim. Sein Bein war heil geworden, so daß er wieder auf Arbeit zu gehen vermochte. Aber die Frau war anwesend, noch immer von Reißen an Händen und Füßen gelähmt.
„Herr Fels!“ rief sie aus, als sie ihn erblickte. „Ist es möglich! Sie sind wieder frei!“
„Heut' wurde ich entlassen“, antwortete er. „Ich komme, um bei Ihnen einige Erkundigungen einzuziehen.“
„Ich stehe gern zu Diensten.“
„Sind Sie über alles, was damals hier geschehen ist, unterrichtet, Frau Schubert?“
„Ich denke es.“
„Ich wurde unvermutet arretiert; ich ahne, daß vieles Traurige passiert ist, aber ich weiß nichts davon, da ich nicht wieder nach Hause durfte und auch später ohne alle Nachricht blieb.“
„Du lieber Gott, es ist allerdings viel, sehr viel geschehen, leider aber nichts Gutes.“
Sie erzählte, und er hörte ruhig zu. Diese Ruhe aber war nur eine rein äußerliche. Im Inneren wogte es schmerzlich auf und nieder. Als sie geendet hatte, sagte er:
„Das ist mehr und schlimmer als ich dachte. Eins aber freut mich, nämlich, daß Robert Bertram freigesprochen ist. Wo befindet er sich jetzt?“
„Oh, der hat ein großes Glück gemacht. Es ist entdeckt worden, daß er ein berühmter Dichter ist, und es hat sich ein großer Herr seiner angenommen.“
„Wer ist das?“
„Der Fürst von Befour, welcher in der Palaststraße wohnt. Er soll aus dem Land stammen, in welchem die Indianer und Hottentotten wohnen, und unermeßlich reich sein.“
„Und Roberts Geschwister?“
„Die waren erst im Waisenhaus untergebracht, befinden sich aber jetzt in der Siegesstraße bei alten, braven Leuten, welche, glaube ich, Brandt heißen. Auch Robert wohnt dort. Der Fürst bezahlt alles.“
„Und Marie Bertram?“
„Die ist, so viel ich weiß, nicht mit dort.“
„Wo denn?“
„Ich weiß es nicht. Am besten ist es, Sie gehen einmal zu diesen Brandts. Die werden Ihnen alles sagen.“
„Welche Straßennummer bewohnen sie?“
„Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß es das kleinste Haus der Siegesstraße ist. Sonst stehen lauter Paläste da. Man getraut sich nicht, laut davon zu sprechen, aber es geht das Gerede, daß dieser fromme Herr Seidelmann damals seine Hand im Spiel gehabt habe.“
„Der soll sich sehr vor mir in acht nehmen. Er ist ein Heuchler, der Gottes Wort im Mund führt, aber aller Ränke voll ist.“
Er verabschiedete sich und begab sich nach der Siegesstraße. Dort war das einzige kleine Häuschen sehr leicht zu finden. Die Tür war verschlossen. Sie wurde geöffnet, als er klingelte, und das wohlwollende Gesicht der guten Mutter Brandt blickte ihm entgegen.
„Wohnt hier Herr Brandt?“ fragte er.
„Ja. Treten Sie ein, junger Herr!“
Sie führte ihn in die Wohnstube, in welcher sich die kleinen Geschwister Bertrams befanden. Sie erkannten ihn sofort und sprangen jubelnd auf ihn zu.
„Ah, Sie sind ein Bekannter von ihnen?“ fragte die alte Försterin.
„Ja. Ich heiße Fels.“
„Fels? Sie sind Mechanikus?“
„Ja.“
„Dann kenne ich Sie. Herr Bertram hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat Sie besuchen wollen, ist aber leider immer abgewiesen worden.“
„Ist er zu Hause?“
„Nein. Er ist nach dem Schloßteich gegangen, Schlittschuh zu laufen.“
„Wann kommt er zurück?“
„Vor der Dunkelheit wohl nicht.“
„So werde ich ihn aufsuchen.“
„Wollen Sie ihn nicht lieber hier erwarten? Es gibt auf dem Teich so viele Schlittschuhläufer, daß Sie ihn wohl kaum herausfinden können.“
„Ich finde ihn schon. Wissen Sie vielleicht den Aufenthalt seiner Schwester Marie?“
Dies lag ihm am meisten am Herzen. Er sehnte sich, die Geliebte wiederzusehen.
„Oh, die ist in sehr guten Händen. Sie befindet sich in Stellung bei einer Madame Groh in der Ufergasse.“
„Was ist diese Dame?“
„Sie ist Rentiere, das heißt, sie lebt von ihren Zinsen, und jedermann kennt sie als eine höchst achtbare und gottesfürchtige Dame.“
„Ich werde sie aufsuchen.“
„Das wird vergeblich sein. Herr Bertram war bereits mehrere Male dort, hat sie aber nicht angetroffen, weil sie verreist ist.“
„Hat sie Marie Bertram mitgenommen?“
„Ja. Herr Bertram hat diese Schwester, seit sein Vater
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