62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
ob es für ihn von Wichtigkeit sei, weiteres zu hören. Darum fragte er:
„In welcher Weise ging das Kind verloren?“
„Die Herrschaft befand sich für einige Tage in einem benachbarten Städtchen. Eine Bonne führte die spezielle Aufsicht über den Knaben. Sie hatte einen Fehler begangen; man drohte ihr mit Strafe; da verschwand sie, und mit ihr das Kind. Man hat trotz aller Nachforschung keine Spur von beiden zu entdecken vermocht.“
„Also wohl ein Racheakt?“
„Jedenfalls. Nun ist der betreffenden Familie eine wunderbare Ähnlichkeit ihrer Glieder eigen, welche sich von Generation auf Generation fortpflanzt. Und als ich Sie hier sah, fielen mir Ihre Züge auf. Man könnte meinen, Sie müßten ein Holmström sein.“
„Holmström? Ah!“
„Fällt Ihnen der Name auf?“
„Der Anfangsbuchstabe desselben.“
„Warum?“
„Ich bin ein Findelkind.“
Ankerkron fuhr überrascht empor.
„Ein Findelkind? Wirklich?“ fragte er.
„Ja. Das heißt, ich wurde als ungefähr einjähriger Knabe dem hiesigen Findelhaus übergeben.“
„Eigentümlich. Haben Sie keine Ahnung, wer Ihre Eltern sein mögen?“
„Nein. Sie scheinen jedoch von Adel zu sein.“
„Woraus schließen Sie das?“
„Ich hatte eine goldene Kette mit einem Herz am Hals hängen gehabt. Auf diesem Herzen waren die Buchstaben R.v.H. eingegraben. Und auf einem beiliegenden Zettel hatte die Bemerkung gestanden, daß ich getauft sei und Robert heiße.“
„Mein Herr, Sie sehen mich im höchsten Grad betroffen. Robert hieß auch der kleine Holmström.“
Dem jungen Dichter stieg eine glühende Röte in das Gesicht. Sollte dies der Augenblick sein, in welchem der Vorhang gelüftet werden könnte?
„Sind Sie Ihrer Sache gewiß?“ fragte er.
„Oh, wie gewiß! Ich habe ja selbst mit gesucht. Und ich bin auch jetzt hier, um möglicherweise die scheinbar verwehte Spur dennoch aufzufinden. Ich bin nämlich seit langen Jahren Beamter der Familie Holmström. Es ist eine gräfliche Familie. Sagen Sie mir doch, ob die Kette noch vorhanden ist! Ich kenne sie.“
„Freilich ist sie vorhanden. Sie befindet sich hier an meiner Uhr.“
„Ah! Darf ich sie einmal sehen?“
„Gern. Bitte, hier ist sie!“
Er gab dem Fremden Uhr und Kette hin. Dieser betrachtete die letztere und das daran hängende Herz genau, schüttelte dann den Kopf und sagte:
„Das ist sie freilich nicht!“
„Aber die Buchstaben sind dieselben!“
„Nicht ganz. Zwischen den beiden großen Anfangsbuchstaben müßte sich ein kleines ‚v‘ anstatt eines ‚u‘ befinden. Auch ist dies Kettchen wohl kaum echt, und das Herz ist von anderer Art. Aber eine große Ähnlichkeit zwischen dieser und der Kette, die ich meine, ist zu konstatieren.“
Bertram bemerkte schnell:
„Sollte meine Befürchtung doch begründet sein?“
„Welche Befürchtung?“
„Ich habe nämlich einigen Grund zu der Annahme, daß man mir die Kette ausgetauscht hat.“
„Zu welchem Zweck?“
„Das kann ich allerdings nicht einsehen. Ich weiß ganz genau, daß auf dem goldenen Herzen stets ein ‚v‘ gestanden hat. Erst kürzlich war ein ‚u‘ daraus geworden.“
„Wie sollte das geschehen sein? Ist die Kette vielleicht einmal in fremden Händen gewesen?“
„Leider! Aber freilich nur kurze Zeit.“
„Wohl zur Reparatur?“
Robert errötete. Er zögerte, ein Geständnis zu machen. Aber die Angelegenheit war für ihn von zu großer Wichtigkeit, als daß er sich nicht über sein Schamgefühl hätte wegsetzen sollen.
„Nein, nicht zur Reparatur. Waisen- oder Findelkinder pflegen nicht reich zu sein. Das ist auch bei mir der Fall. Ich kam vor Weihnachten in die Lage, eine kleine Summe Geldes zu brauchen, und wußte keinen anderen Ausweg, als die Kette zu versetzen.“
„O weh! Sie sind in die Hände eines Spitzbuben geraten, welcher Ihnen eine unechte Kette untergeschoben hat, um einen pekuniären Profit zu machen. Kette und Herz werden wohl längst eingeschmolzen sein!“
Robert schüttelte nachdenklich den Kopf.
„Das glaube ich nicht“, sagte er.
„Haben Sie Grund, etwas anderes anzunehmen?“
„Vielleicht.“
„Ich möchte mir nicht den Anschein geben, als wolle ich mich in Ihr Vertrauen drängen; aber diese Angelegenheit ist mir von zu hoher Wichtigkeit, als daß ich mich beruhigen könnte. Weshalb sollte man den Umtausch vollzogen haben, wenn nicht in gewinnsüchtiger Absicht?“
„Diese Absicht war freilich da; aber der Gewinn sollte ein größerer sein als
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