62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
nur der höhere Goldwert einer Kette.“
„Sie sprechen in Hieroglyphen!“
Bertram blickte vor sich nieder. Er ging mit sich zu Rate, ob er sich diesem fremden Herrn noch weiter als wie bisher anvertrauen solle.
„Sage es ihm!“ flüsterte Fels.
Robert zuckte leise die Achsel.
„Eine gräfliche Familie!“
Das wirkte, besonders da Ankerkron so klug war, nicht zu drängen. Bertram sagte:
„Der Mann, dem ich die Kette versetzte, hatte eine Tochter, welche sich für mich zu interessieren schien. Das Interesse war kein gegenseitiges. Sie hat, scheint es mir, die Buchstaben gelesen und daraus gefolgert, daß ich der Sohn einer vornehmen Familie sei. Um sich für die Zurückweisung ihrer Neigung zu rächen, hat sie die Kette unterschlagen, damit ich mich nicht zu legitimieren vermag.“
Der Fremde hatte aufmerksam zugehört.
„Oder“, sagte er, „will sie sich dadurch Erhörung erzwingen. Sie können sich ohne Kette nicht legitimieren, und sie wird die Kette nur gegen Liebe hergeben.“
„Auch möglich!“
„Haben Sie die Kette hier versetzt?“
„Ja.“
„Fast möchte man vermuten, daß hier ein Jude die Hand im Spiel habe.“
„Das ist allerdings der Fall. Das Mädchen ist das einzige Kind der Eltern.“
„Ist sie häßlich?“
„Nein. Sie ist sogar im Gegenteil ungewöhnlich schön.“
Der Fremde nickte mit dem Kopf.
„Sie müssen am besten wissen, ob Ihre Vermutung eine begründete ist. Ich rate Ihnen, diesen Leuten kräftig vor den Zaun zu rücken.“
„Ich werde es versuchen.“
„Und dann erlauben Sie mir vielleicht, mich nach dem Erfolg zu erkundigen?“
„Gewiß. Darf ich um Ihre Adresse bitten?“
„Ich wohne jetzt im Hotel ‚Zum Goldenen Engel‘. Und Sie, Herr Bertram?“
„Ich wohne bei Seiner Durchlaucht, dem Fürsten von Befour.“
„Danke! In dieser Adresse liegt eine große Empfehlung. Er interessiert sich für Sie?“
„Ja.“
„Weshalb?“
„Man nennt mich einen Dichter.“
„Ach so! Jedenfalls ist dies auch der Grund, daß sich jene Jüdin so sehr für Sie interessiert?“
„Sie sind scharfsinnig. Sie liebte den Dichter, noch ehe sie mich persönlich kannte.“
„Weibliche Überspanntheit! Also, suchen Sie die Originalkette wieder zu erlangen, dann wird sich das Rätsel Ihrer Abstammung vielleicht aufklären!“
Er griff wieder zum Zeitungsblatt, als betrachte er die Unterhaltung als abgeschlossen. Da aber nahm jetzt Wilhelm Fels das Wort:
„Erlauben Sie, Herr Ankerkron! Wir sind ganz von dem Gegenstand abgekommen, welcher Ihnen Veranlassung gab, die Ehre Ihrer Bekanntschaft zu machen.“
„Wieso?“
„Wir sprachen von jener Madame Groh –“
„Ach so. Sie schienen dieselbe für eine sehr achtbare Dame zu halten?“
„Gewiß.“
„Nun, ich weiß das gerade Gegenteil von ihr und ergreife das Wort, um Sie vor ihr zu warnen.“
„Wirklich? Wissen Sie Nachteiliges von ihr?“
„Mehr als genug, obgleich ich fremd hier bin. Sie handelt nämlich mit braven Mädchen, welche sie an sich zieht, um sie dann an berüchtigte Häuser zu verkaufen.“
„Alle Wetter! Das soll sie wohl bleiben lassen!“
„Sie tut es wirklich. Es steht ihr dabei ein Kompagnon zur Seite, welcher ein raffinierter Teufel ist, ein gewisser Seidelmann, der –“
„Seidelmann? Oh, dem ist es freilich zuzutrauen!“
„Kennen Sie ihn?“
„Nur zu gut, nur zu gut!“
„Diese Madame Groh wohnt zwei Treppen hoch. Sie nimmt scheinbar die Mädchen in Dienst. Eine Treppe tiefer aber gibt es ein Lokal für intime Herrenbesuche, dahin verleiht die Groh nun ihre Mädchen, um sie in die Geheimnisse der Liebe einzuweihen. Ist dies erreicht worden, so haben solche Mädchen einen gewissen Kaufwert erhalten und werden verschachert.“
„Herr, sagen Sie die Wahrheit?“ fragte Fels.
„Ja.“
„Aber wie können Sie als Fremder in hiesige Verhältnisse eingeweiht sein, welche wir nicht kennen?“
Ankerkron lächelte überlegen und antwortete:
„Erstens sind Sie noch zu jung, als daß ich annehmen möchte, Sie besäßen auf diesem Gebiet Erfahrung und Scharfblick. Und zweitens wird gerade dem Fremden das, wovon hier die Rede ist, viel bereitwilliger geboten, als dem Einheimischen.“
„Das mag sein.“
„Ich kann Ihnen, falls Sie zweifeln sollten, sogar Namen nennen, um Sie von der Wahrheit meiner Behauptung zu überzeugen. Ich hörte gestern von einem Mädchen, welches verkauft worden ist.“
„Von dieser Groh?“
„Von dieser Groh und ihrem Seidelmann.
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