talon014
Talon Nummer 14
„Blutmond“
von
Thomas Knip
Abwartend stand Talon am Rand der Lichtung und hielt sich mit einer Hand an einer lose herabhängenden Liane fest. Die tief stehende Sonne fiel in schmalen Bahnen durch das dicht zusammengewachsene Blätterdach und erhellte nur wenige Stellen des offenen Platzes, der sich in einer geschwungenen Linie durch die Baumreihen zog.
Es war erst gestern, dass er zusammen mit Shions Garde aus dem Tempel geflohen war und sich hierher zurückgezogen hatte. Der Platz lag mehrere Kilometer von dem wuchtigen Gebäudekomplex entfernt tief im Dschungel versteckt, und so war die Gefahr äußerst gering, dass eine Patrouille von Eser Kru auf sie aufmerksam werden würde. Selbst bei ihrer Flucht aus dem verwirrenden Labyrinth von Gängen waren sie keiner Wache mehr begegnet. Der Hüne, der den Tempel besetzt hielt, hatte bei seinen Machtkämpfen inzwischen offensichtlich so viele Leute verloren, dass er nicht einmal mehr die Tiefen des Gebäudes sichern konnte.
Talon sah zu, wie sich N’keles Männer an einer Stelle am Rand der Lichtung zu schaffen machten, die mit einem kaum zu durchdringenden Gewirr aus Schlingpflanzen und Efeu überwuchert war. Sie hatten auf ihrer Flucht nichts mit sich nehmen können, und so waren sie gezwungen, das Gestrüpp mit ihren bloßen Händen auseinander zu reißen. N’keles bunter Kopfschmuck, der seinen kahl geschorenen Kopf wie den der anderen Männer einer Mähne gleich zierte, wippte bei den ruckartigen Bewegungen aufgeregt hin und her.
Erleichtert schrien die Männer auf, als der Widerstand der Pflanzenstränge nachgab und einen Blick auf die gähnende Öffnung freigab, die sich dahinter verbarg. Talon hatte bis jetzt nicht verstanden, warum sie an diesem unscheinbaren Punkt mitten in der Wildnis des Dschungels Halt gemacht hatten, und das geheimnisvolle Lächeln des Anführers von Shions Garde trug nicht viel zur Klärung bei.
N’kele verteilte die knapp zwanzig Mann, die mit ihnen zusammen geflohen waren, durch kurze Befehle. Die meisten von ihnen verschmolzen binnen weniger Augenblicke mit dem schattenhaften Farbenspiel des Dschungels und sicherten die Lichtung ab, während sich eine kleine Gruppe von drei Mann mit ihm zusammen vor der dunklen Öffnung versammelte. Er winkte Talon zu sich herüber.
„Das ist der Eingang in eine versteckte Kammer“, erklärte er dem Weißen und deutete mit dem Finger in dem schmalen Gang, der sich nun im abendlichen Licht abzeichnete. „Es gibt mehrere von ihnen, alle angelegt von Eser Kru selbst und seiner Familie.“
„Und was finden wir dort unten?“, wollte Talon wissen.
„Das, was wir brauchen“, erwiderte der Hüne mit der bronzefarbenen Haut. Ohne weiter abzuwarten, zwängte er sich an den starren Lianen vorbei und betrat die Öffnung, die direkt in eine steile, in die Tiefe führende Treppe überging. Talon folgte ihm kommentarlos. Er spürte, wie sehr es die Männer genossen, ihm an Wissen und Erfahrung überlegen zu sein. Sie waren nicht bereit, ihn als ihren neuen Herrn anzuerkennen und ließen es ihn immer noch spüren.
Und er wusste nicht, ob er bereit war, um diese Anerkennung zu streiten.
Hinter ihm folgten schweigsam die drei anderen Männer. Obwohl draußen die Sonne bereits unterging, war der Treppengang von einem gleichmäßigen Lichtschein erhellt, der jenem glich, der die Tiefen des Tempels erfüllte. Bereits nach gut zehn Metern mündeten die Stufen in eine gedrungene Kammer aus grob behauenen, riesigen Steinplatten. Die Luft war abgestanden und roch nach lange verwesten Pflanzenresten. Zahlreiche Insekten huschten vor den Eindringlingen über den Boden davon und verkrochen sich in den Steinritzen.
Talon sah sich um. Jetzt verstand er, warum die Männer darauf aus waren, eine dieser Kammern zu finden. An den Wänden waren lange Holzbalken befestigt, in deren Halterungen aus brüchigen Lederschlaufen mannslange Speere mit langen, breiten Klingen steckten. Die Witterung hatte den Waffen offensichtlich zugesetzt, dennoch waren sie in einem weitaus besseren Zustand, als Talon es erwartet hätte.
Es mochten gut hundert Speere sein, die hier zusammengetragen worden waren. Mit einem Seitenblick entdeckte er eine flache Kommode, in der mehrere Messer mit einer unterarmlangen, wuchtigen Klinge aufgeschichtet lagen, die eher Kurzschwertern glichen.
Talon nahm eine der archaisch wirkenden Waffen in die Hand und schwang sie leicht durch die Luft, um ihre Stabilität zu testen.
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