62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
ab und sprach nicht weiter mit ihm. Aber ihr Ärger suchte einen Gegenstand, und fand ihn in Wally.
„Da drüben sitzt das dumme Ding!“ sagte sie. „Wir werden von den Herren zurückgewiesen, und sie tut, als ob sie eine Heilige wäre. Ich werde die Madame holen.“
Sie wollte aufstehen, wurde aber von Hagenau, welcher an ihrer anderen Seite saß, zurückgehalten.
„Bleiben Sie!“ sagte er. „Die Wally gehört jetzt mir, und wenn ich es dulde, daß sie da drüben sitzen bleibt, so geht das keine andere etwas an.“
„Geht es auch niemand etwas an, wenn ich von einem Herrn beleidigt werde?“
„Sind Sie denn beleidigt worden?“
„Sie haben es doch auch gehört!“
„Pah! Er will keinen Kuß haben. Das ist doch wohl keine Beleidigung.“
„Was denn sonst?“
„Wissen Sie, er ist ein verkappter Einsiedler. Lassen Sie den Kerl gehen. Wenn Sie einen so großen Appetit nach einem Kuß haben, so will ich Ihnen helfen.“
„Soll ich Ihnen einen geben?“
„Mir nicht direkt. Aber da habe ich meine hohen Reitstiefel an, echtes, wohlriechendes und gut eingetalgtes Juchtenleder. Wenn Sie die beiden Schäfte küssen wollen, so will ich die Stiefel ausziehen; sie sollen Ihnen eine volle halbe Stunde zur Verfügung stehen.“
Alles lachte; sie aber antwortete schlagfertig:
„Einverstanden, denn Ihr Juchtenleder zu küssen, das ist jedenfalls appetitlicher, als Ihr Gesicht abzulecken. Aber behalten Sie trotzdem die Stiefel an. Sie möchten sonst Ihre falschen Waden verlieren.“
„Bravo, Mädel! Du hast den Mund auf dem rechten Fleck. Trink aus! Meine halbe Flasche ist alle; wir müssen jetzt wechseln.“
Die Mädchen rückten weiter. Der, zu welchem sich jetzt Wally zu setzen hatte, war nicht so nachsichtig wie Hagenau. Er blickte verlangend nach ihr aus und sagte:
„Nun, Fräulein, soll auch ich verzichten?“
Sie antwortete nicht.
„Wenn Sie glauben, daß ich Sie dispensiere, so irren Sie sich. Kommen Sie, sonst hole ich Sie!“
Jetzt nahm sie doch Notiz von seinen Worten. Sie gab zwar keine hörbare Antwort, aber sie zuckte die Achseln in einer Weise, welche die tiefste Verachtung aussprach.
„Famos!“ flüsterte Hagenau von diesem vornehmen Zucken der vollen, reizenden Schultern hingerissen.
„Nun, darf ich bitten?“ fragte sein Kamerad in scharfem Ton.
Und als auch diese Mahnung fruchtlos war, stand er auf und ging zu ihr hin. Er faßte ihr Händchen und sagte:
„Wer wird so prüde sein! Ein Mädchen Ihres Standes muß – Donnerwetter! Au!“
„Was ist?“ fragte Hagenau, welcher bemerkte, daß der andere den Finger in den Mund steckte.
„Ich habe mich gestochen.“
„Wo denn?“
„Das weiß der Teufel. Dieser reizende Kobold hat meine Hand zurückgestoßen, und dabei bin ich an die Spitze eines Instrumentes oder einer Nadel gekommen.“
„Ha! Wespen stechen!“ lachte Hagenau, welcher bemerkte, daß Wally eine Nadel in den Falten ihres Kleides verbarg. „Setzen Sie sich lieber nieder!“
„Fällt mir nicht ein. Sie muß mit!“
Er wollte die Hand abermals nach ihr ausstrecken, fühlte sich aber sofort am Arm ergriffen. Randau stand bei ihm und sagte in ernstem Ton:
„Bitte, keinen Zwang!“
„Aber, sie ist ja jetzt mein!“
„Hat sie ihre Zustimmung erteilt?“
„Habe ich sie etwa zu fragen?“
Die Augen Randaus blitzten auf; über sein hübsches Gesicht glitt ein fast drohender Ausdruck.
„Sind wir etwa hier, um Infamitäten zu beginnen?“ fragte er in strengerem Ton.
„Randau!“ brauste der andere auf.
„Bitte, hier keinen Namen nennen! Diese Dame steht unter meinem Schutz!“
„Ah! So!“ dehnte der Kamerad, der sich beleidigt fühlte. „Dame? Diese Mädchen sind für einen jeden da, also auch diese hier für mich!“
„Ich wiederhole, daß ich sie nicht beleidigen lasse!“
„Soll ich diese Wiederholung als eine Beleidigung gegen mich ansehen?“
„Eine Beleidigung war nicht meine Absicht, aber ich habe nichts dagegen, zur Rechenschaft gezogen zu werden.“
„Gut, wir sprechen noch darüber!“
Er kehrte an den Tisch zurück. Jetzt erst geriet Wally zum ersten Mal in eine freiwillige Bewegung. Sie wendete Randau ihr Gesicht zu und flüsterte: „Danke!“
Welch ein Gesicht und welche Züge! Wie glühte die Röte der Verlegenheit und der Entrüstung auf den bleichen und doch so vollen, zarten Wangen. Welch ein Ausdruck lag in den vor Leid nassen Augen, aus denen doch ein Strahl des Zorns blitzte.
Sie hatte nur dieses eine Wort
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