62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
gesagt. Aber es war ihm, als ob darin ihr ganzer Jammer ausgesprochen liege. Er hatte Mühe, sich loszureißen und wieder an seinen Platz zurückzukehren.
Dort suchte Hagenau den anderen zu beruhigen. Es gab einen Wortwechsel, welchen der lange Oberlieutenant mit der Aufforderung beendete:
„Macht keinen Unsinn! Du hast verzichtet, geradeso wie ich. Mag's ein dritter versuchen. Trinken wir aus. Neue Flaschen her!“
Diejenige, welche erst neben Randau gesessen hatte, ging hinaus, um die vier Flaschen Wein zu holen. Da saß Melitta, die Besitzerin des Etablissements, neben ihr eine alte, hagere Dame, eine wahre Harpyenphysiognomie. Das war die Wirtschafterin und Direktrice des Hauses. Zu ihr sagte das Mädchen:
„Haben Sie es gehört, Madame?“
„Was?“
„Von der Wally?“
„Nein. Wir haben uns hier laut unterhalten. Was ist's schon wieder mit ihr?“
„Sie ist bereits zu zwei Herren nicht gegangen, welche sie zu sich wünschten.“
„Dieses Verhalten werde ich ihr doch noch abgewöhnen.“
„Den zweiten hat sie sogar mit der Nadel gestochen, als er sie bei der Hand nehmen wollte.“
„Was? Wirklich? Welche Frechheit! Diese Herren sind Offiziere! Das muß bestraft werden! Fräulein Melitta, holen Sie mir diese saubere Person doch einmal selbst heraus!“
„Warum ich?“
„Wenn ich sie rufe, kommt sie vielleicht nicht, weil sie weiß, was ihrer wartet. Bei Ihnen denkt sie vielleicht an einen anderen Grund.“
Das Mädchen erhielt die Flaschen, und mit jenem zugleich trat Melitta in den Salon und winkte Wally, ihr zu folgen. Die Unglückliche gehorchte sofort.
Drinnen wurden die Gläser gefüllt, und die Mädchen veränderten zum dritten Mal ihre Sitze. Dadurch wurde ein nicht unbedeutendes Geräusch verursacht; dennoch aber war es Randau dabei, als ob er draußen etwas höre, wie wenn jemand in die Hände klatsche.
Erst nach einer längeren Weile trat Wally wieder ein. Ihr schönes Gesicht war ganz verstört. Ihre Wangen glühten im Fieber; ihre Augen funkelten, und ihr Atem ging rasch und schwer, wie man an den Bewegungen ihres Busens bemerkte.
Sie setzte sich wieder auf ihren Platz und wollte das Gesicht ebenso wie vorher in die Ecke drücken. Da fühlte sie den leichten, höflichen Druck einer Hand auf ihrem Arm. Sie stieß mit einer hastigen Bewegung des letzteren die Hand von sich fort, ohne sich umzusehen. Da flüsterte eine halblaute Stimme:
„Fräulein, bitte, blicken Sie mich an!“
Das war die Stimme dessen, welcher vorhin Randau genannt worden war, der sie in Schutz genommen hatte. Es trieb sie, ihm ihr Gesicht zuzuwenden.
„Ich hörte etwas“, sagte er. „Hat man Sie geschlagen?“
Sie erglühte noch mehr als vorher, und in ihre wundervollen Augen traten schwere Tränen.
„Bitte, antworten Sie!“ bat er. „Sie sind geschlagen worden? Nicht wahr?“
„Nein“, flüsterte sie, von der Scham zu dieser Unwahrheit getrieben.
„Ich wollte es dieser Melitta auch nicht raten.“
„Sie sind Offizier?“ hauchte sie.
Er sah es ihr ganz deutlich an, daß sie jetzt das erste Mal einen Besucher dieses Hauses anredete.
„Ja, mein Kind“, sagte er, da es ihm widerstrebte, sie zu belügen. „Ein Offizier und hier! Sie denken nicht gut von mir?“
„Ich bin ja auch hier!“
„Aber gezwungen, und ich freiwillig! Nicht wahr, man hat Sie gezwungen?“
„Ja“, antwortete sie.
Er stand vor ihr, die Hand auf die Platte des Tischchens gestemmt. Sie sah ihm voll und offen in das Gesicht.
„Wollen Sie fort von hier?“ fragte er.
„Ich kann nicht.“
„Warum nicht?“
„Man läßt mich nicht.“
„Wer?“
„Melitta und die Wirtschafterin. Man läßt mich nicht aus dem Haus.“
„Warum sprechen Sie nicht mit einem Besucher dieses Hauses darüber?“
„Diesen Leuten vertraue ich nicht.“
„Armes, armes Kind! Ich werde –“
Er mußte abbrechen, denn ein anderer Kamerad faßte ihn am Arm, zog ihn zur Seite und sagte:
„Halt, mein Bester! Das ist gegen die Verabredung! Jetzt gehört Wally zu mir!“
Sofort sank die letztere wieder in ihre vorherige abgewendete Lage zurück.
„Laß die Dame gehen“, bat Randau.
„Warum nicht? Sie soll an den Tisch.“
„Bitte, peinige sie nicht. Sie will nicht.“
„Ist das wahr, Fräulein?“
Wally nickte mit dem Kopf.
„Na, meinetwegen! Es widerstrebt mir, ein solches Wesen zur Freundlichkeit zu zwingen. Aber, Randau, dein Verhalten ist ganz und gar gegen unser Programm.“
„Wieso?“
„Soll sie etwa
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