62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Gebilde der Phantasie sind. Ich will fühlen, ob ich Menschen vor mir habe.“
„Das Sehen ist auch ein Fühlen. Ich glaube, Sie sind überzeugt, daß eine Amerikanerin zu den sterblichen Bewohnern der Erde gehört.“
„Ja. Aber dennoch stehen die Ladys uns Bewohnern des Kontinents so fern, daß man beim Anblick einer solchen Dame eine unbesiegbare Wißbegierde empfindet, ob sie auch Fleisch und Blut ist. Wollen Sie mich das untersuchen lassen?“
Er hatte sich erhoben und zwei Schritte hinter dem Tisch hervor getan. Seine Augen waren mit sichtlicher Gier auf sie gerichtet.
Ihr Blick hielt dem seinigen kalt und ruhig stand.
„Das bedarf jedenfalls nicht erst einer Untersuchung, da es bereits genügsam konstatiert ist.“
„O nein. Eine Schönheit wie die Ihrige kann unmöglich eine irdische sein. Nur die Überzeugung kann zum Glauben führen. Gestatten Sie, Miß, mich zu überzeugen, daß Sie nicht die aus Walhalla herabgestiegene Göttin der Liebe sind, sondern eine wirkliche Tochter staubgeborener Eltern.“
Er streckte den Arm nach ihr aus, griff aber in die Luft. Sie hatte sich gedankenschnell erhoben und war um einige Schritte zurückgewichen.
„Herr Intendant!“
In dem Ton dieser Worte lag eine Zurechtweisung, welche förmlich drohend klang. Sie stand aber in so stolzer Schönheit vor ihm, daß er sich kaum zu beherrschen vermochte. Er antwortete:
„Nicht diesen Ton, nicht diesen! Ihr Händchen müssen Sie mich ergreifen lassen. Wir wollen nebeneinander sitzen und beraten, auf welche Weise wir Ihre hiesige Stellung am schönsten und vorteilhaftesten zu gestalten vermögen. Kommen Sie, Miß!“
„Ich danke! Habe ich erst die Stellung, so weiß ich sie schon selbst nach meinem Geschmack zu gestalten!“
„Aber Sie haben sie noch nicht!“
„Das muß ich freilich zugeben!“
„Und wissen Sie, wessen Einfluß da am maßgebendsten ist, Miß Starton?“
„Jedenfalls der Ihrige.“
„Allerdings! Ich denke, daß es Ihnen nicht unlieb sein würde, diesen Einfluß für sich zu gewinnen.“
„Es würde mich freuen, ihn zu besitzen.“
„Nun, so suchen Sie, ihn zu verdienen.“
„Das ist meine Absicht.“
„Jedenfalls haben Sie Lebenserfahrung genug, um zu wissen, in welcher Weise eine liebenswürdige Dame sich eine solche Protektion erwirbt.“
„Gewiß!“
„Nun?“
„Indem sie ihren Pflichten in jeder Beziehung Genüge leistet. Sie können überzeugt sein, daß ich mir Mühe geben werde, Ihren Beifall zu erwerben.“
„Gut! Doch hoffe ich, Sie meinen nicht nur meinen künstlerischen Beifall. Im Theater bin ich Kritiker; hier in meinem Heim aber bin ich Mensch. Dort entzückt mich eine künstlerische Leistung, und hier kann mich ein Kuß zu jedem Zugeständnis veranlassen.“
„Daraus schließe ich, daß Sie jedenfalls glücklich verheiratet sind.“
„Wie? Was? Wie meinen Sie?“
„Wenn Sie sich durch eine solche Familienzärtlichkeit zu jedem Zugeständnis veranlaßt sehen, so müssen Sie ein sehr guter Gatte, Vater und Großvater sein.“
Er griff mit beiden Händen nach dem weißseidenen Halstuch und fragte im Ton unendlichen Erstaunens:
„Vater? Großvater? Meinen sie wirklich?“
„Ja“, nickte sie ihm vertraulich zu.
„Sehe ich denn wie ein Großvater aus?“
„Sogar wie ein recht erfahrener und ehrwürdiger!“
Das war ihm noch nicht vorgekommen; das hätte er für unmöglich gehalten. Er kratzte sich hinter den Ohren; er griff wieder an das Halstuch. Großvater, das war ihm zu bunt; das hatte ihn ganz aus der Kontenance gebracht. Endlich stieß er hervor:
„Vielleicht halten Sie mich sogar für einen Urgroßvater?“
„Eine Unmöglichkeit würde es nicht sein. Man kann doch bereits mit sechzig Jahren oder gar noch früher Urgroßvater sein.“
„Mit sechzig? Bereits? Das klingt ja gerade, als ob Sie mich für älter hielten?“
„Allerdings!“
„Älter? Himmel! Wie alt bin ich denn Ihrer freundlichen Ansicht nach ungefähr?“
„Neunundsechzig und ein halb.“
„Herr des Himmels! Miß, wo denken Sie hin?“
„Ich denke an den Bühnenalmanach.“
„Was ist mit dem?“
„Da sind Sie im Verzeichnis der Bühnenvorstände natürlich auch vorhanden. Ihr Geburtsjahr und auch der Tag sind angegeben.“
„Das ist verdruckt, vollständig verdruckt! Ich werde den Herausgeber zur Rede stellen.“
„Das würde ich allerdings auch tun. Solche Angaben müssen auf völliger Wahrheit beruhen, und es kann Ihrem Ruf nur Nutzen bringen, wenn man
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