62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
erfährt, daß sie noch um einige Jahre betagter sind, als angegeben worden ist. Je höher das Alter, desto größer die Erfahrung, geehrtester Herr!“
Er starrte sie an, als ob er ein Todesurteil höre.
„Was sagen Sie?“ rief er aus. „Noch um einige Jahre betagter soll ich sein?“
„Das haben Sie doch wohl gemeint?“
„Wann denn?“
„Als Sie vorhin sagten, daß die Angabe über Ihr Alter nicht richtig sei.“
„Sie sind des Teufels! Es fällt mir gar nicht ein, älter sein zu wollen als ich bin. Ich zähle einundfünfzig.“
„Wirklich? Wirklich?“
„Gewiß! Sehe ich etwa älter aus?“
„Sie würden vielleicht jünger aussehen, aber –“
„Was denn? Was meinen Sie?“
„Wenn nicht diese falsche Haartour, diese Perücke –“
„Perücke? Sie Unglückskind! Das sind meine eigenen Haare!“
„Dann ist es zu bewundern, wie mobil diese Haare sind. Sie haben sich das Vordertoupet ganz auf die linke Seite gedreht.“
„Wie? Was? Auf die linke Seite? Ich werde sofort Jean rufen. Der muß –“
„O bitte, das kann ich ebenso. Kommen Sie! Ich werde Ihnen dieses natürliche Haar wieder zurechtrücken. So, mein bester, mein liebster Großpapa!“
Sie faßte ohne Zaudern seinen Kopf und schob ihm das Toupet wieder nach vorn.
Er war ganz starr vor Entsetzen. Seine Augen nahmen fast einen gläsernen Ausdruck an. Er seufzte zum Erschrecken, holte tief, tief Atem und sagte dann matt:
„Erlauben Sie, daß ich mich setze?“
„Gewiß! Tun Sie das! Das Alter bedarf der Pflege.“
Er stieß einen Ton aus, von welchem nicht zu sagen war, ob er der Ausdruck des Grimmes sei oder ob er nur als Folge vollständiger Ratlosigkeit gelten könne.
„Fühlen Sie sich nicht wohl?“ fragte sie in freundlicher Besorgnis.
„Nicht wohl? O nein! Dazu bin ich zu jung und kräftig. Aber alteriert bin ich einigermaßen.“
„Worüber?“
„Über Sie natürlich!“
„Doch nicht! Ich bin mir ja gar nicht bewußt, Ihnen Veranlassung dazu gegeben zu haben!“
„Nicht? Da sehe einer an! Ihre Altersschätzung!“
„War freilich zu niedrig gegriffen.“
„Auch noch! Die Perücke!“
„Ist Ihr echtes Haar.“
„Sie nennen mich Großvater, sogar Urgroßvater!“
„Aus teilnehmender Ehrfurcht.“
„Was tue ich mit Ihrer Ehrfurcht! Ich kann sie ganz und gar nicht gebrauchen! Ein bißchen Liebe wäre mir tausendmal lieber!“
„Wenn Sie gestatten, will ich Sie lieben, wie eine Enkelin den Vater ihrer Mama liebt.“
Da schlug er die Hände zusammen und fragte kopfschüttelnd:
„Sagen Sie, Miß, sind alle Amerikanerinnen so wie Sie?“
„Ich hoffe es!“
„Dann haben die Vertreterinnen Ihrer Nation, wenn sie Tänzerinnen sind, aber ganz und gar keine Chance, bei uns Anstellungen zu finden.“
„Warum?“
„Wir verlangen von einer Tänzerin, daß sie nicht nach dem Alter fragt.“
„Das braucht sich auch nicht, denn es ist ja im Almanach ganz genau angegeben.“
„Ferner soll sie liebebedürftig sein und diese Eigenschaft ganz besonders gegen ihren obersten Vorgesetzten betätigen. Man kann die Jünglingsjahre hinter sich haben und doch ein jugendliches Herz besitzen! Wie ich Sie heute kennenlerne, können sie unmöglich eine gute Tänzerin sein.“
„Würden Sie diese Behauptung beweisen können?“
„Ja. Der Tanz hat die Aufgabe, alle möglichen menschlichen Gefühle durch körperliche Bewegungen zur Darstellung zu bringen. Ist das richtig?“
„So ziemlich.“
„Eine Tänzerin muß also zweierlei besitzen. Erstens die Fertigkeit in diesen Bewegungen und zweitens die Gefühle, welche sie darstellen soll!“
„Ganz richtig!“
„Sie haben aber solche Gefühle nicht.“
„Das ist eine sehr kühne Behauptung.“
„Sie haben kein Herz. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich sehr besorgt um Sie bin. Jetzt habe ich leider keine Zeit, sonst fänden sie vielleicht Gelegenheit, mir zu beweisen, daß Sie doch zärtliche Regungen besitzen. Vielleicht beliebt es Ihnen, morgen nochmals vorzusprechen.“
„Ich glaube kaum, daß ich es nochmals wage, Altersstudien anzustellen. Sollte ich hier Engagement finden, so werden Sie bald die Erfahrung machen, daß ich nicht herzlos bin. Nur darf das Menschenherz nicht einer Wolke gleichen, welche Alte und Junge, Schöne und Häßliche, Kluge und Unfähige, Gerechte und Ungerechte mit ihrem Regen beträufelt.“
„So sind Sie also die Wolke, von welcher ich niemals einen Tropfen Tau erwarten kann? Ich glaube nicht. Es gibt Wolken,
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