62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Kohlenwerk.“
Als sie dort anlangten, bot sich ihnen ein schauderhafter Anblick. Alle Bewohner des Städtchens, welche laufen konnten, waren herbeigeeilt. Die eingestürzte Esse bildete einen wüsten Trümmerhaufen. Statt Schnee sah man ringsum nur Schutt und Ruß. Die Kohlenarbeiter, welche Pause gehabt hatten, waren angefahren, um zu sehen, was da unten zu retten sei. Die Steiger befanden sich in der Tiefe, und der Obersteiger leitete die Arbeit. Er sprach soeben mit dem Obergendarm.
„Sie wissen also ganz genau“, sagte dieser, „daß für heute keine Sprengung angeordnet war?“
„Ganz genau. Für heute und auch die nächsten Tage nicht.“
„Es könnte aber doch vielleicht einer –“
„O nein. Das ist unmöglich. Ich selbst halte das Sprengmaterial in sehr strenger Verwahrung.“
„Also doch Grubengase?“
„Nein. Es ist gesprengt worden.“
„Aber Sie sagen ja selbst, daß nichts Derartiges befohlen worden sei.“
„Allerdings! Und dennoch hat eine Sprengung stattgefunden, und zwar nicht mit Pulver, sondern mit Dynamit! Unsereiner weiß das zu unterscheiden.“
„Aber dann ist mir unbegreiflich –“
Arndt hatte dies mit angehört. Er fiel schnell ein:
„Bitte, noch zu warten, Herr Obergendarm! Ich habe eine Ahnung. Vielleicht gelingt es mir, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. O weh! Wie schrecklich!“
Man brachte nämlich einige Leichen aus der Tiefe. Sie waren ganz verbrannt und zerrissen, so daß es schwer war, zu bestimmen, wer sie seien. Die herbeigeeilte Bevölkerung erhob ein lautes Klagegeschrei. Arndt aber, stets praktischen Sinnes, rief einigen zu:
„Wollt ihr die Toten in den Schutt legen? Kommt dort nach dem Schuppen: dort ist Stroh genug!“
Er selbst eilte voran und öffnete die Tür. Andere folgten, um zu helfen. Trotz des Geräusches, welches sie hinter ihm verursachten, fiel ihm doch ein Rascheln auf, welches er gehört zu haben meinte. Er war Polizist und pflegte nichts zu übersehen und nichts zu versäumen.
„Paßt auf, hier unten“, sagte er daher, „daß niemand entkommen kann! Da oben scheint jemand sich versteckt zu haben. Wollen doch einmal sehen!“
Er stieg hinauf, erblickte aber nichts. Nach einigem Tasten aber fühlte er einen Stiefel und zu seiner anderen Hand einen zweiten. Diese beiden Stiefel waren nicht leer, sondern es steckten Füße darin.
„Holt einmal Polizei und Licht herbei“, sagte er. „Es sind hier wirklich Personen vorhanden, welche sich verbergen.“
Es kamen bald einige Gendarmen, und auch Laternen wurden herbeigebracht. Sofort verbreitete sich die Kunde, daß die Urheber der Explosion entdeckt worden seien, und infolgedessen war die Menschenmenge, die sich vor dem Schuppen zusammendrängte, nach Hunderten zu zählen. Hätten die beiden Versteckten den Gedanken gehabt, sich durch einen forcierten Ausbruch zu befreien, diese Anzahl hätte es ihnen unmöglich gemacht.
Sie wurden aus dem Stroh hervorgezogen, und nun sah man beim Schein der Laternen einen älteren und einen jüngeren Mann, der eine mit einem Pelz, der andere mit einem Havelock gekleidet und beide Vollbärte tragend.
Der Obergendarm war auch herbeigekommen. Er betrachtete sich die zwei, schüttelte den Kopf und sagte:
„Diese Männer sind mir unbekannt. Sie können nicht aus dieser Gegend sein.“
Und sich direkt an die beiden Schmiede wendend, fragte er:
„Wer sind Sie?“
Die Gefragten hielten es in ihrer Verlegenheit für das beste, die heute bereits einmal gespielte Rolle beizubehalten; darum antwortete der Sohn:
„Nix deutsch.“
„Ah, keine Deutschen. Was aber dann?“
„Franzos, Franzos!“ antwortete der Alte.
Er dachte gar nicht daran, daß seine Ausrede vollständig hinfällig sei, falls einer der Anwesenden Französisch sprechen konnte. Der Obergendarm war dieser Sprache mächtig. Er fragte also:
„Eh bien! Vous êtes des français?“
„Wui, wui!“ nickte der Schmied, der den Sinn dieser Frage leicht erraten hatte.
„Comment vous appelez vous?“
„Nix deutsch!“
Der Obergendarm blickte den Sprecher erstaunt an. Er hatte doch nicht deutsch, sonder französisch gesprochen. Arndt legte ihm die Hand auf den Arm und sagte:
„Sie brauchen sich nicht zu wundern. Die Sprache und Stimme dieses Franzosen, der nicht Französisch versteht, kommt mir bekannt vor. Wollen Sie die Güte haben, mir das Verhör zu überlassen?“
„Sehr gern.“
„Nun gut! Sind Sie wirklich Franzosen, meine Herren?“
Diese Frage war an die
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