62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
verstummt, aber sie durchsuchten dennoch den Kirchhof. Auf dem Grabe des Beyerschen Ehepaares lag die Tochter ohne Besinnung, in ihrem Schoß ein kleines Kind. Ihre Hände waren fest um den Hals des zarten Wesens gekrallt – das Kind war zwar noch warm aber leblos.
Der Totengräber und seine Frau schafften die ohnmächtige Mutter und das tote Kind zu sich in die Stube. Dann ging der erstere zum Gemeindevorstand, um diesen zu wecken und Meldung zu machen. Wegen der vielen auf dem Schacht Verunglückten befanden sich zwei Ärzte im Ort. Zu ihnen gesellte sich am Morgen der Gerichtsarzt. Die drei begaben sich in das Haus des Totengräbers, um das Kind zu untersuchen.
Auguste Beyer lag still und teilnahmslos im Bett. Die Ärzte erklärten, das Kind habe nach der Geburt gelebt und geatmet und sei erdrosselt worden.
„Haben Sie das getan?“
Sie nickte mit dem Kopf. Sollte sie etwa leugnen? Es war ja nun doch alles gleich.
Bereits am Nachmittage zog sie als Kindesmörderin wieder in das Untersuchungsgefängnis ein, welches sie gestern verlassen hatte. Die Ärzte hatten begutachtet, daß sie transportabel sei, wenn man die nötige Vorsicht anwende. Sie sagte kein Wort, und sie weinte auch nicht. Warum auch weinen? Es war nun doch alles aus!
VIERTES KAPITEL
Ein Magdalenenhändler
In einer kleinen, stillen Straße der Residenz, wohin das Geräusch der verkehrsreichen Stadtteile nicht zu dringen pflegte, gab es ein kleines Weinstübchen, welches – früher gar nicht sehr frequentiert – seit einiger Zeit recht lebhaft besucht wurde.
Diese neueren Gäste waren meist junge Leute, Studenten, sonstige Schüler, Kommis und andere. Das hatte seinen guten Grund, und dieser Grund bestand in – einer neuen Kellnerin.
Das Mädchen, welches seit einiger Zeit hier bediente, war noch jung, kaum sechzehn Jahre alt, dabei aber ziemlich entwickelt und von einer eigenartigen Lieblichkeit, durch welche die Gäste angezogen wurden, ohne aber es zu wagen, zudringlich zu werden. Es lag über das rosige Gesichtchen ein Hauch von Unschuld und Kindlichkeit ausgebreitet, den jeder respektieren mußte, der überhaupt das Herz eines nicht rücksichtslosen Menschen besaß.
Heute war es noch früh am Morgen. Das Lokal bestand aus zwei Stuben. In der hinteren saß – der fromme Herr August Seidelmann, Vorsteher des Vereins der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Er verkehrte hier nicht selten. Er war mit dem Wirt bekannt und auch vorhin mit dem Bemerken, daß die Kellnerin jetzt nicht anwesend sei, von demselben bedient worden.
Nach einiger Zeit trat dieselbe in die vordere Stube. Sie wußte nicht, daß sich in der hinteren ein Gast befinde und setzte sich, eine Häkelarbeit vornehmend, an ihren Platz.
Es dauerte nicht lange, so kam ein Gast, ein Mann von vertrauenerweckendem, ja beinahe ehrwürdigem Aussehen, welcher herablassend freundlich grüßte und sich einen Frühschoppen bestellte.
Die Kellnerin bediente ihn und kehrte dann an ihren Platz zurück. Sie vertiefte sich in ihre Arbeit so, daß sie gar nicht bemerkte, in welcher Art die Augen des Gastes auf sie gerichtet waren.
Er hatte nämlich in diesem Augenblick gar nicht mehr das ehrwürdige Aussehen von vorhin. Sein Mund hatte sich gespitzt wie zum Kuß. Seine Augen leuchteten und ruhten mit einem Blick auf ihr, der ebenso berechnend wie lüstern genannt werden mußte. Es war ganz so, als wenn ein Gourmand eine Delikatesse betrachtet und bei sich denkt:
„Das möchtest du wohl essen; aber, hm, wie wird es denn mit dem Preis stehen?“
Das Schweigen schien ihm nach und nach unbequem zu werden. Er räusperte sich halblaut, und dabei nahm sein Gesicht wieder ganz den vorherigen, vertrauenerweckenden Ausdruck an. Er räusperte sich noch einmal und fragte dann:
„Kennen Sie mich noch, Fräulein?“
Die plötzliche Anrede brachte eine leichte Röte auf ihren Wangen hervor; sie antwortete:
„Sie waren gestern abend hier?“
„Ja. Ich komme gleich heute früh wieder, weil Ihr Wein wirklich exquisit ist.“
„Das sollte der Herr hören.“
„Warum?“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, als ob sie sich wundere, daß er so etwas Selbstverständliches nicht begreife, und antwortete:
„Weil er sich darüber freuen würde.“
„Ach so! Und Sie? Freuen Sie sich nicht auch?“
„Es ist mir lieb, wenn der Herr mit der Einnahme zufrieden ist.“
„Und wenn Sie dabei auch eine Einnahme haben.“
Wieder blickte sie ihn fragend an. Er erklärte:
„Ich meine
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