62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
nämlich die Trinkgelder. Besinnen Sie sich, daß ich Ihnen gestern einen Gulden gab?“
„Es war zuviel!“ antwortete sie, indem sie verlegen auf ihre Arbeit niederblickte.
„Zuviel? O nein. Es war gerade genug für ein so allerliebstes, hübsches – Getränk, wie dieser Weißwein ist.“
Er hatte das, was er eigentlich hatte sagen wollen, noch rechtzeitig unterdrückt und beobachtete nun, welchen Eindruck seine Worte gemacht hatten.
Sie schien gar nicht zu ahnen, daß er ‚Mädchen‘ anstatt ‚Getränk‘ hatte sagen wollen. Sie arbeitete weiter, und es hatte ganz den Anschein, als ob sie das Gespräch nun für abgebrochen und beendigt halte. Er aber fuhr fort:
„Es ist darum so sehr schade, daß ich nicht wiederkommen kann.“
„Warum können Sie das nicht?“
„Weil ich nicht von hier bin. Das ist wohl auch der Grund, daß Sie mein Trinkgeld für zu hoch halten. Da, wo ich wohne, ist man nicht knausrig. Wer etwas Gutes genießt, der bezahlt auch gern und anständig.“
Sie antwortete nicht. Wieder verging eine Weile. Er suchte nach einem Anknüpfungspunkt. Sein Auge fiel auf das Piano, welches an der Wand stand. Er fragte:
„Für wen ist dieses Instrument?“
„Für die Gäste.“
„Nicht auch für Sie, Fräulein?“
„Nein.“
„So spielen Sie wohl gar nicht?“
„Ich habe es nicht gelernt.“
„Das ist schade! Klavierspielen gehört jetzt zur Bildung. Eine jede Dame muß es können.“
„Meine Eltern sind zu arm dazu.“
„Ach so! Darf ich fragen, was Ihr Vater ist?“
„Er ist Holzschnitzer.“
„Wo?“
„Droben im Gebirge. Leider aber kann er das Geschäft nicht mehr treiben. Er ist in die Kreissäge gekommen und hat dabei drei Finger der rechten Hand verloren.“
„O weh! Das ist schlimm! Da bedaure ich ihn von Herzen. Nun wird Ihre arme Mutter doppelt arbeiten müssen!“
Es flog ihr feucht über die Augen, als sie antwortete:
„Ich habe keine Mutter mehr. Sie starb vor drei Vierteljahren am Fieber.“
„An welchem Fieber?“
„Die Ärzte nannten es Hungertyphus.“
„Hungertyphus? Haben Sie denn Hunger gelitten?“
„Hunger eigentlich nicht, denn es gab stets etwas zu essen, wenn man auch nicht so recht satt wurde. Aber es wurde gesagt, daß diese Nahrung nicht zureichend sei; man verhungere, trotzdem man esse.“
„Das begreife ich nicht! Haben Sie Geschwister?“
„Noch drei Schwestern.“
„Welche älter sind als Sie?“
„Nein. Ich bin die Älteste.“
„Aber da werden Sie ja zu Hause gebraucht!“
„Eigentlich ja. Aber ich mußte dennoch fort, um Geld zu verdienen. Die nächste Schwester ist vierzehn Jahre alt; sie kommt zu Ostern aus der Schule und muß nun an meiner Stelle die Wirtschaft versorgen.“
„Und was macht Ihr Vater? Womit ernährt er sich?“
„Er handelt ein wenig mit Obst. Das bringt er trotz seiner invaliden Hand fertig.“
„Reich wird er dabei wohl nicht werden!“
„O nein. Aber der liebe Gott hilft doch immer.“
„Und Sie mit. Natürlich müssen Sie Ihren Lohn hergeben?“
Sie nickte. Ein lautes ‚Ja‘ zu sagen, das fiel ihr denn doch zu schwer. Sie hatte den Vater und die Geschwister von Herzen lieb. Was sie tat, das tat sie gern. Arm zu sein ist keine Schande, aber so offen darüber zu sprechen, das widerstrebte doch ihrem Gemüt.
Wieder kam eine Pause. Dann begann er von neuem:
„Wie heißt Ihr Vater?“
„Weber.“
„Und Sie?“
„Ich werde Magda genannt.“
„Das ist doch wohl die Abkürzung von Magdalene?“
„Ja.“
Da glitt ein eigentümlicher faunischer Zug über sein Gesicht. Er richtete das Auge scharf auf sie und fragte:
„Wissen Sie wohl, was man unter einer Magdalene versteht?“
„Nein“, antwortete sie, indem sie ihm dabei groß und offen in das Gesicht sah.
„Nun, haben Sie nicht von Maria Magdalena gehört?“
„O doch! Ich las von ihr in der Bibel.“
„So wissen Sie doch, wer sie war?“
„Eine Freundin und Anhängerin des Heilands.“
„Und von der büßenden Magdalena, die gemalt worden ist, haben Sie auch gehört?“
„Nein.“
Sie antwortete offen und ohne Zaudern. Er erkannte, was er wissen wollte: Sie war ein sittlich reines, unverdorbenes Mädchen. Der Gedanke, welcher ihm gestern gekommen war, wurde jetzt zum Entschluß. Diese Magda war eine wunderliebliche Knospe, welche versprach, sich zur Rose von vollendeter Schönheit zu entfalten.
„Haben Sie bereits an anderen Orten gedient?“ setzte er das Gespräch fort.
Dies Gespräch war ein
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