62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Examen, ohne daß sie es merkte.
„Hier ist meine erste Stelle“, erwiderte sie.
„Wieviel erhalten Sie?“
„Drei Gulden monatlich.“
„O weh! Das ist sehr, sehr wenig! Wie wollen Sie da Ihren armen Vater unterstützen, zumal Sie von den Besuchern dieses Lokales keine großen Trinkgelder zu erhalten scheinen?“
„Es wird mir allerdings nicht leicht. Ich muß den ganzen Lohn dem Vater geben und brauche doch auch Geld für Wäsche und verschiedenes. Vielleicht bekomme ich eine andere und bessere Stelle!“
„Sie wollen also nicht bleiben?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich zuwenig verdiene, und weil die Madame ein anderes Mädchen haben will.“
„Ist sie denn nicht mit Ihnen zufrieden?“
„Das wohl, aber –“
Sie stockte und errötete.
„Nun, fahren Sie doch fort!“
„Sie zankt zuweilen mit dem Herrn.“
„Wohl wegen Ihnen?“
„Ja.“
„Hm! Das ist sehr unangenehm. Haben Sie denn bereits eine andere Stelle?“
„Noch nicht, obgleich ich zu jeder Zeit abziehen könnte.“
„Das ist doch nicht gebräuchlich!“
„Aber ich dürfte doch sogleich fort, wenn ich auf den letzten Monatslohn verzichten wollte.“
„So verzichten Sie doch lieber auf die lumpigen drei Gulden, wenn Sie eine bessere Stelle bekommen können!“
„Das täte ich gar wohl. Aber ich bekomme eben keine bessere. Ich bin den Leuten zu jung, ich soll erst noch lernen. Man bietet mir gar nicht mehr als drei Gulden.“
„Ja, ja, so ist es hier in der Residenz! Bei uns bezahlt man zehnmal besser. Bei uns würde man Ihnen viel mehr bieten.“
Das elektrisierte sie. Sie hob rasch das hübsche Köpfchen und fragte:
„Wo ist das?“
„In Rollenburg.“
„In dem Rollenburg, wo sich die Irrenanstalt befindet?“
„Ja, die Landesirrenanstalt und zwei Privatanstalten. Dort wissen die Leute zu leben. Dort nutzt man das Gesinde nicht so aus wie hier. Ein Mädchen, welches seine Arbeit macht, hat jeden Sonntag frei, einen hohen Lohn und ein sehr nobles Weihnachtsgeschenk.“
„Welchen Lohn bekommt man dort?“
„Hm! Das kommt auf die Stelle an, welche man bekleidet, ob Dienstmädchen, Hausmädchen, Zimmermädchen, Verkäuferin oder Kellnerin. Was würden Sie vorziehen?“
„Kellnerin möchte ich doch nicht gern wieder werden.“
„Warum?“
„Weil –“
„Nun, weil –? Sprechen Sie immerhin aufrichtig mit mir. Ich meine es aufrichtig mit Ihnen.“
„Weil die Gäste oft so zudringlich sind.“
„Ja freilich, da haben Sie recht. Eine Stelle bei Damen würde Ihnen also lieber sein?“
„Ganz gewiß. Ich wäre ganz glücklich, wenn ich eine solche erhalten könnte!“
„Wirklich? Ah, das trifft sich wunderbar! Aber Sie wollen leider hier in der Residenz bleiben?“
„O nein. Der Ort, an dem ich mich befinde, ist ganz gleichgültig, wenn ich nur so viel verdiene, daß ich meinem Vater zuweilen eine Erleichterung bereiten kann.“
„Dann ist es gerade, als ob das Schicksal mich hierhergeschickt hätte. Ich weiß nämlich eine gute, sehr gute Stelle.“
„In Rollenburg?“
„Ja. Bei einer Verwandten von mir. Wissen Sie, sie ist eine Malerin, eine sehr berühmte Künstlerin. Sie hat eine Anzahl junger Damen in Pension, welche auch Malerinnen werden sollen. Für diese Damen braucht sie ein Stubenmädchen. Ein Dienst- und ein Hausmädchen hat sie bereits. Das Stubenmädchen soll die feineren und leichteren Arbeiten besorgen. Der Lohn ist sehr hoch, und daß diese Künstlerinnen feine Trinkgelder geben, das können Sie sich denken!“
Das unerfahrene Mädchen stand von seinem Platz auf. Die Augen leuchteten vor Freude und die Wangen erglühten wie Schnee, auf den der Strahl der Morgenröte fällt. Der Gast fühlte sich dem Ziel nahe und fragte darum:
„Würde Ihnen diese Stelle recht sein?“
„Wie ist der Lohn?“
„Fünfzehn Gulden monatlich.“
„Fünf – mein Gott! Fünfzehn Gulden?“
„Ja, ohne die Trinkgelder und Geschenke.“
„Oh, könnte ich die Stelle bekommen! Welch ein Glück! Wie könnte ich da den Vater unterstützen!“
„Nun, ich will Ihnen sagen, daß meine Verwandte mich gebeten hat, mich hier nach einer passenden Person umzusehen; ich könnte sie gleich mitbringen.“
„Dann bitte, bitte, nehmen Sie keine andere!“
Sie hielt ihm bittend das kleine Händchen entgegen. Er ergriff und drückte die zarten Finger und antwortete dann im Ton väterlichen Wohlwollens:
„Nun, Sie sind zwar jung –“
„Ich werde mir alle mögliche Mühe
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