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62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen

Titel: 62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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fragte der Schuster.
    „Eine schöne Statue ohne Leben.“
    „So ist es, ganz genau so. Ist nicht Leben hineinzubringen?“
    „Vielleicht. War sie stets so?“
    „Nein. Sie soll einmal sehr erschrocken sein oder großen Kummer erfahren haben.“
    „So ist sie leicht zu heilen. Sie muß einem begegnen, den sie liebhaben kann, und für so einen werde ich sorgen.“
    „Sie nehmen sie also?“
    „Ja, vorausgesetzt, daß ich nichts zu bezahlen habe.“
    „Gar nichts. Ich halte mein Wort.“
    „Wie aber bekomme ich sie nach dem Bahnhof?“
    Seidelmann sann einige Augenblicke nach und sagte dann:
    „Das Klügste ist, ich bringe sie Ihnen, aber nicht nach dem Bahnhof, sondern nach der nächsten Haltestelle.“
    „Warum?“
    „Man soll weder mich noch Sie hier mit ihr sehen.“
    „Schlau! Aber Sie müssen zur rechten Zeit eintreffen. Ich kann nicht aussteigen und auf sie warten.“
    „Keine Sorge! Ich stelle mich pünktlich ein und löse das Billet. Sehen Sie zum Coupé heraus, damit ich Sie bemerken kann.“ –
    Am Nachmittag fuhr eine Droschke am Bahnhof vor. Ein junger Mann, welcher eine Brille trug, stieg aus, bezahlte den Kutscher und schritt den Perron entlang dem Wartezimmer zu. Er hatte nichts bei sich als eine kleine Reisetasche, welches sein ganzes Gepäck enthielt.
    Er trat in das Wartezimmer zweiter Klasse. Es war noch leer. Nur ein junges Mädchen saß da. Neben ihrem Stuhl lag eine kleine Lade. Sie ging sehr einfach gekleidet, so daß man vermuten konnte, daß sie hatte in das Wartezimmer dritter Klasse gehen wollen, aber irre gegangen war.
    Der junge Mann setzte sich und ließ sich ein Glas Bier geben. Während des Trinkens fiel sein Blick schärfer auf das Mädchen und kehrte von da immer und immer wieder zu ihr zurück.
    Sie war eine aufknospende Schönheit, eine vielversprechende Blüte, welche noch keine Hand berührt hatte. Aber nicht das allein zog sein Auge an, sondern in ihren weichen, sanften Zügen fand er ein Etwas, was ihm bekannt und vertraut vorkam.
    Und, sonderbar, auch sie blickte wiederholt zu ihm herüber, und wenn sich ihre Blicke dabei begegneten, senkte sich ihre Wimper, aber nicht wie zurückgeschreckt, sondern wie von der Freude bewegt.
    Da stand er auf, machte einige rasche, entschlossene Schritte auf sie zu, verbeugte sich leicht und sagte:
    „Entschuldigung, mein Fräulein! Haben wir uns nicht bereits einmal gesehen?“
    Sie errötete sehr, hob aber ihr schönes Auge frei zu ihm empor und antwortete:
    „Sehr oft, Herr Doktor!“
    „Wie! Sie kennen mich?“
    „Sie aber werden mich vergessen haben.“
    „Wo sahen wir uns denn?“
    „In der Heimat, in Langenstadt.“
    „Ah, Sie sind auch da oben her? Ich bin allerdings fast fünf Jahre nicht daheim gewesen. Aber, hm! Ihr Gesicht spricht mich so freundlich und so traulich an, und doch weiß ich auch nicht, welchen Namen ich Ihnen geben soll.“
    „Denken Sie an die Kirschen!“
    „An welche Kirschen?“
    „An die Kirschen, Stachelbeeren, Birnen und Äpfel, welche Sie heimlich zwischen den Zaun steckten, damit sie jemand finden könnte.“
    Er schien nachzudenken.
    „Wer war dieser Jemand?“
    „Ein kleines, armes Mädchen, welches niemals einen Pfennig hatte, sich solche Früchte zu kaufen. Sie waren damals noch Gymnasiast; dann gingen Sie auf die Universität, wurden Arzt und machten Reisen. Das kleine Mädchen ist inzwischen auch ein wenig größer geworden.“
    „Webers Magda? Das kleine, rosige Geschöpf? Die meinen Sie doch? Nicht wahr?“
    „Ja, Herr Doktor.“
    „Und die – ah, sind Sie etwa diese Magda?“
    „Ja.“
    „Nun, das ist mir eine große, große Freude! Erlauben Sie, daß ich mich zu Ihnen setze! Ja?“
    Sie nickte nur; aber ihr ganzes, liebes Gesichtchen strahlte vor Freude über die Ehre, die ihr zuteil wurde. Er holte sein Glas, nahm ihr gegenüber Platz, ließ sein Auge voll und warm auf ihr ruhen und sagte:
    „Ja, ja, das ist das Gesichtchen, und das sind auch die Augen, die es dem Jungen angetan hatten. Aber sagen Sie einmal, damals fürchteten Sie sich so sehr vor mir?“
    „Fürchten? O nein, niemals“, lächelte sie.
    „Aber, sooft ich Sie auch rief und lockte, Sie kamen doch nie zu mir heran.“
    „Oh, doch nicht aus Furcht.“
    „Weshalb sonst?“
    „Ihre Eltern waren so reich und die meinigen so arm.“
    „Was tut das?“
    „Sehr viel! Ihr Garten kam mir vor wie der Himmel. Ich hegte eine unendliche Ehrfurcht vor allem, was sich jenseits des Zauns befand.“
    „Ach

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