62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
so! Also nicht Furcht, sondern Ehrfurcht?“ lachte er.
„Ja. Und sodann war ich ein ganz kleines, dummes Ding, lief barfuß und aß Grützebrei; Sie aber trugen eine grüne Mütze, waren als ein Ausbund von Gelehrsamkeit bekannt und ritten spazieren. Da durfte man doch nur ganz scheu und verlegen durch den Zaun lauschen.“
„Aber ich baute an diesem Zaun ein Nest und legte manchmal Kirschen hinein.“
„Dann kam der scheue Vogel und – husch, fort waren sie!“
„Ja. Und so war es auch mit den Beeren, Birnen, Äpfeln und Nüssen. Ich habe im stillen meine helle Freude an Ihnen gehabt, das können Sie mir glauben.“
„Und ich war gewaltig stolz auf die Notiz, welche Sie von mir nahmen.“
„Leider dauerte das nicht lange. Ich ging zur Schule, und später starben die Eltern schnell hintereinander weg. Ich kam nur auf Augenblicke zur Heimat, und dann blieb ich ganz weg. Und Sie?“
„Mir starb die Mutter. Der Vater kam um die Hand –“
„O weh! Wie denn?“
„Die Kreissäge verstümmelte sie ihm. Nun war es natürlich aus mit dem Holzschnitzen. Er fing einen kleinen Obsthandel an.“
„Der ihn aber nur kümmerlich ernährt?“
„Ich habe noch drei Schwestern“, antwortete sie, indem sie den Blick zu Boden senkte.
„Von denen Sie die Älteste sind. Und dennoch – ich vermute, Sie haben Langenstadt verlassen, um einen Dienst zu suchen?“
„Ich diente bereits.“
„Wo?“
„In der Residenz.“
„Als was?“
„Als Kellnerin in einer Weinstube.“
Seine Brauen zogen sich finster zusammen. Was ging ihm dieses fremde, arme, ungebildete Dienstmädchen an? Und doch hatte er das Gefühl, als sei irgend eine Saite seines Innern mißtönend angeschlagen worden.
„Dort sind Sie noch jetzt?“ fragte er.
„Nein.“
„Wo denn?“
„Ich fahre heute nach Rollenburg, wo ich einen neuen Dienst erhalten habe.“
Sofort erheiterte sich sein Gesicht wieder.
„Nach Rollenburg? Dahin will ich auch.“
„Wohnen Sie dort, Herr Doktor?“
„Noch nicht; aber ich habe einen Ruf dorthin erhalten, als Assistent einer Privatirrenanstalt.“
„Brrr!“ schüttelte sie sich.
„Das klingt nun freilich nicht sehr angenehm; aber zu fürchten brauchen Sie sich dennoch nicht vor mir. Ich selbst bin bei vollen Sinnen. Was für eine Stellung haben Sie da gefunden?“
„Bei einer Dame, einer Malerin, welche junge Malerinnen in Pension hat.“
„Wie heißt sie?“
„Fräulein Melitta.“
„Dieser Name ist mir unbekannt. Sonst bin ich auf diesem Feld sehr orientiert. Jedenfalls aber werden wir zusammen in einem Coupé sitzen.“
„Das wird wohl unmöglich sein, Herr Doktor.“
„Warum?“
„Sie fahren jedenfalls in einer anderen Klasse als ich.“
„Nein. Sie fahren in der meinigen. Haben Sie bereits ein Billet gelöst?“
„Noch nicht.“
„So bitte ich um die Erlaubnis, es lösen zu dürfen.“
„Auch das ist nicht möglich. Ich reise nämlich mit einem Herrn, welcher –“
„Mit einem Herrn?“ fiel er schnell ein.
„Ja.“
„Wie kommen Sie zu einer solchen Begleitung?“
Sie schien gar nicht zu ahnen, welcher Vorwurf eigentlich in seiner Frage lag. Sie blickte ihm frank und frei in das Auge und antwortete:
„Ich kann nicht anders. Er ist ein Verwandter meiner neuen Herrin und hat mich gemietet.“
„Ach so! Ist er jung?“
„Nein, alt.“
„Dann ist es allerdings – dort blickt einer zur Tür herein. Er scheint jemand zu suchen.“
„Das ist er. Er winkt. Ich muß hin.“
Sie griff nach ihrer kleinen Lade. Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte:
„Unter diesen Verhältnissen darf ich Sie allerdings nicht zurückhalten. Hoffentlich sehen wir uns in Rollenburg wieder. Oder wünschen Sie das nicht?“
Sie rang mit einer Antwort; dann klang es leise:
„Ich würde mich sehr freuen. Adieu, Herr Doktor!“
„Adieu, Magda!“
Sein Auge folgte ihr, bis sie hinter der Tür zum Wartezimmer dritter Klasse verschwunden war. Dort stand Uhland und empfing sie mit finsteren Blicken.
„Was taten Sie da drin?“
Sie sah ihn erstaunt an.
„Warum fragen Sie?“
„Weil Sie doch hier in diesen Saal gehören.“
„Ich achtete nicht darauf und habe mich verlaufen. Auch konnte ich doch nicht wissen, in welcher Klasse Sie fahren.“
„Natürlich in dritter!“
Dieser Ton verdroß sie. Darum antwortete sie:
„Reiche Rentiers pflegen sonst aber nicht in dritter Klasse zu fahren.“
„Ah, diese kleine Fliege kann auch stechen!“ So dachte Uhland.
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