62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Überraschung erkennen. Er fragte in höflicherem Ton als vorher:
„Dieser Name ist mir bekannt. Sie fahren vielleicht nach Rollenburg zu Herrn Doktor Mars?“
„Ja. Sie kennen ihn?“
„Ich trete als Assistent bei ihm ein. Bei einem kürzlichen Besuch machte ich mit ihm die Runde durch seine Privatirrenanstalt und bekam dabei auch die Frau Baronin zu sehen. Ich bedaure dieses Unglück sehr, Herr Baron!“
Franz von Helfenstein verbeugte sich und fragte dann:
„Was halten Sie von ihrem Zustand, Herr Doktor?“
„Ich kann diese Frage unmöglich schon beantworten. Es gehört ein tiefes Wissen und langzeitige Beobachtung dazu, den Zustand eines solchen Patienten zu beurteilen. Auf dieses beides aber kann ich in diesem Fall keinen Anspruch erheben. Vielleicht darf ich später einmal zu Diensten stehen!“
„Ich hoffe und wünsche es sehr!“
Hiermit brach das Gespräch wieder ab. Zander fühlte keine Sympathie für die Physiognomie und das Wesen des Barons, und dieser hielt es nicht für geraten, sich jetzt mit einem untergeordneten Arzt der Anstalt, in welcher sich seine Frau befand, auszusprechen. Übrigens wollte ihm dieser junge Mediziner, der nicht einmal einen Pelz oder Überrock bei sich hatte, gar nicht imponieren.
Als der Zug in Rollenburg hielt, verabschiedete er sich mit einer kurzen Verbeugung und suchte eine Säule des Perrons auf, hinter welche er sich stellte. Er sah zu seinem Erstaunen, daß Marie Bertram mit einem ihm unbekannten Mann und einem bildhübschen Mädchen ausstieg, welchem letzteren Doktor Zander einen Pelz abnahm, um sich nach einem fast freundschaftlichen Gruß zu entfernen.
Der Baron ließ den Fremden mit den beiden Mädchen an sich vorübergehen, ohne selbst bemerkt zu werden, und folgte ihnen vorsichtig. Sie stiegen in eine Droschke, und er nahm eine zweite. Dem Kutscher gab er den Befehl, der ersten zu folgen. Diese hielt vor einem Haus, dessen sämtliche Fenster mit Tüllgardinen verhüllt waren. Die drei stiegen aus und traten ein.
„Wer wohnt in diesem Haus?“ fragte er den Kutscher.
Dieser zog ein höchst zweideutiges Gesicht und fragte:
„Wissen Sie das nicht?“
„Nein, sonst würde ich nicht fragen. Ich bin hier fremd.“
„Dieses Haus ist berühmt oder vielmehr berüchtigt. Verstehen Sie mich, Herr?“
„Ja. Fahren Sie mich jetzt nach der Heilanstalt des Herrn Doktor Mars!“
Dort war Zander bereits abgestiegen und von dem Direktor empfangen worden. Später kam der Baron zu ihnen und wurde gebeten, noch zu warten, da die Patientin jetzt eben nicht zu besuchen sei.
Beide, Zander und der Baron, wurden zur Tafel gezogen. Während derselben kam die Unterhaltung auf die Verhältnisse der Stadt. Dies gab Zander Veranlassung zu der Frage:
„Haben Sie auch Maler hier, Herr Direktor?“
„Einen einzigen.“
„Und Malerinnen?“
„Ich kenne keine.“
„Es wurde zu mir von einer Malerin gesprochen, welche andere junge Malerinnen als Schülerinnen in Pension bei sich hat.“
„Wie ist ihr Name?“
„Sie heißt – ah, wie schade! Den Namen habe ich vergessen. Es war ein italienischer oder spanischer.“
„Vielleicht fällt er Ihnen ein. Ich wohne bereits über zwanzig Jahre hier und kann wohl behaupten, daß ich jedes Kind kenne. Aber eine Malerin mit Pensionärinnen ist mir vollständig unbekannt. Ich vermute also, daß Sie falsch berichtet worden sind.“
Mit diesem Bescheid mußte sich der junge Assistenzarzt zufriedengeben, obgleich es ihm verwunderlich vorkam, daß eine Malerin, welche eine Pensionsschule leitete, hier in der verhältnismäßig nicht großen Stadt von dem Direktor, welcher behauptete, alles zu kennen, doch nicht gekannt wurde.
Nach der Tafel führte dieser letztere den Baron zu der Patientin. Diese lag auf dem Ruhebett ihrer Zelle wie eine Leiche. Ihr Puls ging äußerst schwach, und ihr Atem war kaum zu bemerken. Die Farbe des Gesichtes war vollständig gewichen. Die Haut war blutleer und fast wie Glas anzusehen. Sie regte sich nicht und zuckte nicht einmal mit der Wimper ihres geschlossenen Auges.
„Sie schläft“, sagte der Baron.
„O nein, das ist nicht Schlaf“, antwortete der Arzt. „Ihre Frau Gemahlin ist eine Kranke, wie ich sie noch nicht gehabt habe.“
„Geben Sie Hoffnung?“
Der Direktor zuckte die Achsel und antwortete:
„Ich will offen mit Ihnen sein: Ich kann selbst aus dem Zustand dieser Patientin nicht klug werden. Alles Leben, das körperliche sowohl wie auch das geistige, hat sich nach
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