65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
Sein Ton klang sehr höflich, und die Verbeugung, welche er machte, befriedigte sie noch mehr. Darum antwortete sie:
„Auch mir ist es so, als ob ich Sie bereits gesehen hätte.“
„Wenn Sie mir erlaubten, neben Ihnen Platz zu nehmen, könnten wir überlegen, wo wir uns begegnet sind.“
„Bitte, setzen Sie sich!“ klang ihre Aufforderung.
Er tat es.
„Ob dieser es ist?“ dachte sie.
Er gefiel ihr nicht übel. Sie sah eine schwere Uhrkette an seiner Weste und teure Ringe an seinen Fingern. Er schien also wohlhabend zu sein, obgleich er nicht gerade etwas Vornehmes an sich hatte. Einem Menschenkenner hätten seine zusammengekniffenen Lippen und sein stechender Blick nicht gefallen.
„Also, wo wir uns gesehen haben?“ sagte er, die Beine gemächlich übereinander legend.
„Ja. Hier ist es nicht gewesen“, antwortete sie.
„Wenigstens früher nicht. Einige Male habe ich Sie hier bemerkt, doch erst in letzter Zeit.“
„Und früher, wo? Ihr Gesicht kommt mir heimatlich vor.“
„Mir das Ihrige auch. Ich bin aus Grünbach.“
„Meinen sie das Grünbach, welches dem Freiherrn von Tannenstein gehört?“
„Ja.“
„So liegt Ihre Heimat freilich sehr nahe an der meinigen. Ich bin aus Reitzenhain, welches Herrn von Hagenau gehört.“
„Ach, jetzt erklärt es sich! Also dort haben wir uns gesehen. Nun wissen Sie es, und die Untersuchung ist zu Ende. Muß ich deshalb nun wieder fort?“
„O nein“, antwortete sie lächelnd. „Ich werde doch meinen Landsmann nicht fortschicken, zumal –“
Sie hielt inne und blickte ihn schalkhaft forschend an.
„Was wollen Sie sagen?“ fragte er.
„Können Sie schreiben?“ lachte sie.
„Oh, sehr gut“, lachte auch er.
„Vielleicht Briefe an Damen?“
„Wenn es sehr notwendig ist, ja.“
„Wann haben Sie den letzten Brief an eine Dame geschrieben?“
Er machte eine bedenkliche Miene und antwortete dann:
„Das kann noch nicht so sehr lange her sein.“
„An wen?“
„Wollen Sie das nicht lieber erraten?“
„Das kann ich nicht. Lieber möchte ich es von Ihnen hören.“
„Ich würde es wohl sagen, wenn ich wüßte, daß die Betreffende nicht bös darüber gewesen ist.“
„Nun, ich glaube nicht, daß man Ihnen eines Briefes wegen bös sein würde. Was haben Sie denn geschrieben?“
„Ich bat die Dame, heute hierher zu kommen.“
„Wozu?“
„Ich hätte gern einige Touren mit ihr getanzt und –“
„Was? Was noch?“
„Sie dann auch weiter kennengelernt.“
„Ist sie denn gekommen?“
„Ja.“
„Sie Glücklicher!“
„Ja“, nickte er, „ich bin allerdings ganz glücklich darüber.“
„Und ich bin ganz neugierig, sie zu sehen. Wo sitzt sie?“
„Oh, auf diese Weise werde ich es nicht verraten. Aber passen Sie auf; diejenige, welche ich bei der nächsten Tour engagieren werde, die ist es.“
„Da werde ich allerdings genau aufmerken.“
Gerade jetzt war die Pause zu Ende, und die Musik intonierte einen flotten Galopp. Er erhob sich, verbeugte sich und bat um ihren Arm. Sie gab ihm denselben, und der Tanz begann. Als derselbe zu Ende war und beide sich wieder setzten, fragte er:
„Jetzt wissen Sie es, an wen ich geschrieben habe. Nun möchte ich wissen, ob Sie zornig sind.“
„Ich wüßte nicht, weshalb ich zornig sein sollte.“
„Dann will ich eine große Bitte an Sie richten. Die aber können Sie mir leicht übelnehmen.“
„Wollen sehen! Lassen Sie hören!“
„Schenken Sie mir auch die übrigen Tänze?“
„Hm! Ich soll also mit keinem anderen tanzen?“
„Das wünsche ich. Ich möchte Sie gern allein für mich haben, obgleich ich kein Recht dazu besitze. Oder interessieren Sie sich vielleicht für einen anderen, so daß es Ihnen schwerfällt, meine Bitte zu erfüllen?“
„Es geht mich keiner etwas an, und damit Sie dies auch glauben, werde ich nur mit Ihnen tanzen.“
Sein Auge ruhte in freudiger Überraschung auf ihrem Gesicht. Ihre vollen Formen wollten fast die ganze Taille zersprengen; ihre küßlichen Lippen blühten ihm entgegen, und in ihrem Blick leuchtete es, wie auffordernd zum Genuß.
„Das ist herrlich!“ sagte er. „Das hätte ich nicht erwartet.“
„Warum nicht?“
„Weil ich glaubte, Sie seien nicht mehr frei.“
„Da haben Sie sich geirrt.“
„Oh, vielleicht täuschen Sie mich doch!“
„Haben Sie Grund, dies anzunehmen?“
„Ja.“
„Oh, den möchte ich doch wissen!“
„Ein so schönes Mädchen kann doch kaum ohne Anbeter
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