66095: Thriller (German Edition)
und wiegte den Stein wie eine Mutter ihr neugeborenes Baby.
»Der Stein ist meine Entdeckung«, sagte Gregor. »Meine Errungenschaft. Meine Chance. Der Stein hat mich verändert, er hat mich vollständig und besser gemacht wie nie irgendetwas zuvor. MacPherson wollte ihn mir wegnehmen und sich das Verdienst seiner Entdeckung aneignen. Das konnte ich nicht zulassen. Wird mich die Geschichte verurteilen, nur weil ich die Geheimnisse dieses Steins entschlüsseln wollte? Weil ich der Erste sein wollte, der alle seine Fähigkeiten erkennt? Weil ich sein Wächter sein wollte?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Cricket.
»Du hast es gesehen«, flüsterte Gregor, »du hast gesehen, was für eine Macht er hat.«
Cricket nickte. »Ja.«
»Macht dir das Angst?«
»Ja.«
»Erschreckt es dich?«
»Ja.«
»So ist es bei allen großen Entdeckungen«, sagte Gregor. »Sie zwingen uns, unsere bisherige Denkweise völlig auf den Kopf zu stellen. Nichts vermittelt ein größeres Hochgefühl und nichts ist erschreckender als eine derartige Veränderung.«
Er hielt inne, erschauderte und rang nach Luft. Dann schien er die ganze ihm noch verbliebene Kraft zu mobilisieren, hielt Cricket den Stein hin und sagte: »Er gehört jetzt dir. Verwahre ihn gut.«
Ein letztes Röcheln, dann atmete er nicht mehr. Der Stein glitt ihm aus den Händen und rollte in den Lehm. Als Cricket so aus dem Fenster sah, trat ihr das Bild vor Augen, wie sie den Stein angestarrt hatte, der neben Gregors Leiche am Boden lag.
Wie fast jeden Abend, seitdem sie nach Hause zurückgekehrt war, wandte sie sich vom Fenster ab und vergewisserte sich, ob die Tür tatsächlich abgeschlossen war. Dann trat sie an ihren Einbauschrank, schob eine alte Schachtel mit Zeitschriften beiseite, unter der zwei lose Dielenbretter zutage traten. Mit einem Schraubenzieher hob sie die Bretter an, griff dann in den Hohlraum zwischen die Holzbalken und holte ein Leinensäckchen hervor, das sie auf ihrem Bett ausleerte. Zum Vorschein kam ein mit Blei ausgekleidetes Säckchen, wie es Fotografen benutzen, um ihre Filme im Röntgenband am Flughafen zu schützen. Sie öffnete es und betrachtete ehrfurchtsvoll den Stein auf ihrem zerknitterten Laken, den man vor sechsunddreißig Jahren auf dem Descartes-Hochland des Monds gefunden hatte.
Cricket hob ihn hoch. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass sie ihn wieder gefunden hatte, als sie eine Woche nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus auf Krücken in die Garage gehumpelt war. Dort, wo ihr Vater die Ausrüstung für die Höhlenbefahrungen verstaut hatte, hatte sie ihren Schleifsack hervorgezerrt. Tief unten, zwischen anderen Ausrüstungsgegenständen, lag noch immer der Stein.
Niemand, weder die Soldaten noch Dr. Swain, weder Chester noch ihre Eltern, weder die Ärzte noch die Regierungsbeauftragten, die den Tower-Kamm durchsucht hatten, war auf den Gedanken gekommen, ihren Schleifsack zu durchsuchen, als man sie aus der Höhle trug. Alle waren damit beschäftigt, ihr Leben zu retten. Und je mehr Zeit verging, ohne dass sich die Aufmerksamkeit auf sie richtete, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass es besser war, den Stein geheim zu halten.
Die Ärzte hatten gesagt, sie hätte eine hohe Strahlungsdosis beim Quark-Zerfall abbekommen, und es gab Zeiten, da machte sie der Gedanke nervös, dass sie das Mondgestein in ihrem Besitz hatte. Mindestens hundertmal hatte sie in den vergangenen zwölf Monaten den Stein mit dem alten Geigerzähler ihres Vaters kontrolliert, aber keinen Ausschlag registriert. Auch bei den zweimonatlichen Kontrolluntersuchungen hatten die Ärzte keine zusätzliche Strahlenbelastung festgestellt.
Ohne die elektronische Matrix war die Gesteinsprobe Nr. 66095 absolut inaktiv und übertrug keinen Funken jener seltenen Energie, die sie in der Höhle beobachtet hatte. Und doch wusste sie, dass sie den Stein früher oder später jemandem geben musste, der ihn wirklich sicher verwahren konnte.
Ab und zu machte Chester Norton ihr gegenüber eine kryptische Bemerkung über die Gesteinsprobe Nr. 66095, und sie fragte sich, ob er und Dr. Swain nicht den Verdacht hatten, dass der Stein in ihrem Besitz war. Aber weder Chester noch sein Onkel hatten sie jemals direkt danach gefragt, und so hatte sie es für sich behalten. Eines Tages würde sie es ihnen vielleicht sagen.
Jetzt dachte sie an die gewaltige Explosion beim Einschlag eines Asteroiden auf dem Mond, die diesen Wunderstein vor Milliarden von Jahren
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