7 Minuten Zu Spät
milchweiß war, weil sie ständig Sunblocker auftrug. Rothaarig, wie sie war, ging sie normalerweise nicht ohne ihren breitkrempigen Hut aus dem Haus, aber heute Morgen hatte sie ihn in der Eile am Garderobenständer vergessen, als sie die Kinder aus der Tür gescheucht hatte, damit sie nicht zu spät zur Schule kamen. Sie rutschte auf der Bank in das letzte schattige Eckchen und blickte erneut auf die Uhr; es war zehn vor drei.
In ein paar Minuten würden die Türen des Schulgebäudes aufgehen, und die Kinder würden herausströmen. Alice holte tief Luft und genoss die relative Ruhe dieser letzten Minuten, bevor die Strömung ihrer Mutterpflichten sie wieder bis zum Abend mitriss. Vielleicht wäre es besser gewesen, im Laden zu bleiben und in der Kühle der Klimaanlage die letzte Lieferung Herbstschuhe auszupacken. Sie hätte lieber noch einmal mit Lauren telefonieren sollen, bevor sie so früh in die brütende Hitze des Nachmittags aufgebrochen war. Wie eine Wolldecke hüllte die Hitze sie ein und nahm ihr den Atem. Sie war im sechsten Monat ihrer dritten Schwangerschaft – auch noch mit Zwillingen, doppelte Mühe, doppelte Freude –, und sie spürte bereits, wie die Babys auf ihre Lunge drückten.
Sie versuchte sich zu erinnern, was Lauren gestern über ihre Pläne für heute gesagt hatte: morgens einkaufen, dann mittags der Schwangerschafts-Pilates-Kurs in Park Slope. Lauren liebte diesen Kurs, und sie hatte auch Alice gedrängt, daran teilzunehmen. Aber Alice hatte neben ihrer Arbeit bei Blue Shoes und den Verpflichtungen zu Hause einfach keine Zeit mehr. Lauren allerdings ließ den Unterricht nie ausfallen. Aber sie war jetzt auch schon weit im achten Monat mit ihrem zweiten Kind, und vielleicht hatte sie die Hitzewelle ja umgehauen.
Alice kramte ihr Handy aus ihrer Tasche und drückte die Kurzwahltaste für Laurens Handynummer. Als die Mailbox ansprang, hinterließ sie eine Nachricht. Anschließend wählte sie Laurens Nummer zu Hause und hinterließ dort ebenfalls eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Sie steckte das Handy wieder in ihre Tasche und holte den gefalteten, mittlerweile völlig zerknitterten Umschlag heraus, den sie Lauren unbedingt zeigen wollte. Sie strich das Blatt Papier auf ihrem Schoß glatt und las erneut die nur zu deutliche Überschrift: Räumung der Wohnung innerhalb von 30 Tagen. Sie hatte die Benachrichtigung erst vor einer Stunde im Laden zugestellt bekommen und fühlte sich betrogen, weil ihr Vermieter – ihr früherer Vermieter, da er vor zwei Tagen sein Brownstone verkauft hatte – dem neuen Besitzer ihre Arbeitsadresse gegeben hatte. Der Brief war unterschrieben mit Julius Pollack, Eigentümer. Warum hatte Mr. Pollack, Eigentümer, sie nicht zuerst angerufen, um mit ihr zu reden? Dann hätte er herausgefunden, wie viel Mühe Alice und Mike in der letzten Zeit darauf verwendet hatten, ein neues Haus zu suchen. Lauren und ihr Mann Tim hatten zu Anfang des Sommers ein ähnliches Schreiben bekommen – allerdings war ihres vom Geschäftsführer von Metro Properties unterschrieben gewesen –, und auch ihnen hatte man nur dreißig Tage Zeit gegeben, bevor sie per Gerichtsbeschluss ihre Wohnung verlassen mussten. Da sie beide Juristen waren, legten sie erfolgreich Einspruch ein, aber sie wohnten auch in einem Mehrfamilienhaus, in dem der Eigentümer nicht so freie Hand hatte wie bei einem Einfamilienhaus. Bei Alice und Mike war es eben so, dass ihr Vertrag mit dem früheren Eigentümer erloschen war, und Pollack war nicht verpflichtet, ihn zu erneuern. Und jetzt mussten sie schwierige Entscheidungen treffen: Sollten sie tatsächlich das anstrengende Projekt in Angriff nehmen und zweimal umziehen, zuerst zum Übergang in ein gemietetes und dann in ein Haus, das ihnen gehörte? Sollten sie wirklich den Kindern und auch sich selbst das alles zumuten? Oder sollten sie sich zur Wehr setzen und genügend Zeit verlangen, um sich von vorneherein nach etwas Richtigem umsehen zu können? Alice brauchte Fakten. Wo Lauren bloß blieb? Sie hätte ihr nicht nur wertvollen juristischen Rat geben, sondern auch den Schock und die Demütigung nachempfinden können, so einfach aus dem eigenen Zuhause herausgeworfen zu werden.
Die Zeit verging, und Alices Enttäuschung wuchs. Sie hätte so gerne die Situation in aller Ruhe mit Lauren besprochen. Vor den Kindern war das nur schlecht möglich. Sie hatte Mike bereits angerufen, und sie waren übereingekommen, den Kindern noch nichts zu sagen,
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