72 Tage in der Hoelle
Verständnis für das, was wir getan hatten, und billigten es. Ich werde ihnen dafür immer dankbar sein. Aber trotz solcher Gesten konzentrierten sich viele Presseberichte auf rücksichtslose, sensationslüsterne Weise auf die Frage unserer Ernährung. In manchen Zeitungen erschienen grausige Schlagzeilen über entsetzlichen Fotos, die Angehörige der Rettungsmannschaft nach der Bergung der Überlebenden aufgenommen hatten. Darauf sieht man Knochenberge neben dem Flugzeugwrack und im Schnee verstreute Körperteile. Im Gefolge dieser publizistischen Ausschlachtung wurde unter anderem das Gerücht laut, es habe die Lawine nie gegeben, sondern wir hätten die bei dieser Katastrophe umgekommenen Menschen in Wirklichkeit getötet, um sie als Nahrung zu verwerten.
In jenen Tagen waren Graciela und Juan für mich eine große Hilfe, trotzdem vermisste ich meine Mutter und Susy sehr. Mein Vater war mein Leidensgenosse, im Nebel seiner Trauer war er jedoch ebenso hilflos wie ich. Wenig später erfuhr ich, dass er in seiner Einsamkeit den Trost einer anderen Frau gesucht hatte, mit der er sich immer noch traf. Ich konnte es ihm nicht zum Vorwurf machen. Mir war klar, dass er in seinem Leben einen starken emotionalen Mittelpunkt brauchte; der Tod meiner Mutter hatte ihm jenes Gefühl von Vollständigkeit und Gleichgewicht geraubt, ohne das er nicht leben konnte. Dennoch war es für mich nicht einfach, so kurz nach der Katastrophe die beiden zusammen zu sehen, und es war nur ein weiteres Zeichen, dass mein altes Leben ein für allemal vorüber war. Als der Sommer kam, entschloss ich mich, Montevideo und den ganzen mit der Stadt verbundenen Erinnerungen zu entfliehen: Ich wollte einige Zeit allein in der Wohnung meines Vaters in Punta del Este verbringen. Seit der Zeit, als Susy und ich als kleine Kinder am Strand gespielt hatten, hatte unsere Familie jedes Jahr den Sommer über dort gewohnt. Jetzt war natürlich alles anders. Alle kannten mich, und ich konnte gehen, wohin ich wollte, immer war ich von Fremden umringt, die gafften, gratulierten oder Autogramme wollten. Anfangs versteckte ich mich in der Wohnung, aber ich muss zugeben, dass irgendetwas in mir nach einiger Zeit die Aufmerksamkeit auch genoss, insbesondere als ich merkte, dass viele attraktive junge Frauen offenbar entschlossen waren, meine Bekanntschaft zu machen. Ich hatte Panchito immer darum beneidet, dass er am Strand mühelos die hübschesten Mädchen kriegen konnte, jetzt liefen sie mir hinterher. Fanden sie mich wegen meines Wesens attraktiv oder wegen der Dinge, die ich getan hatte? Oder lag es einfach daran, dass ich jetzt eine Berühmtheit war? Es kümmerte mich nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben fanden Mädchen mich faszinierend, ja sogar unwiderstehlich, und ich gab mir alle Mühe, das Beste daraus zu machen. Wochenlang traf ich mich mit einer hübschen Frau nach der anderen – manchmal waren es zwei oder drei an einem Tag -, und immer hielt ich Ausschau nach etwas Neuem. Ich wurde zu einem der bekanntesten Lebemänner von Punta del Este, und mein Bild erschien häufig in der Klatschspalte der Zeitung: Nando auf dieser oder jener angesagten Party, Nando mit dem Glas in der Hand, Nando mit dem Lebenswandel eines richtigen Playboys, und immer mit einem oder zwei Mädchen im Arm.
Meine zweifelhafte Berühmtheit blieb auch den anderen Überlebenden nicht verborgen, und die waren von meinem Verhalten nicht begeistert. Für sie war das Martyrium ein einschneidendes Erlebnis gewesen, das ihnen vor Augen geführt hatte, wie kostbar das menschliche Leben ist, und ihr moralischer Anspruch war von da an dementsprechend hoch gewesen. In ihren Augen vergaß ich, was wir gelernt hatten. Irgendwann im Sommer sollte ich als Schiedsrichter in einem Strand-Schönheitswettbewerb fungieren, ein Angebot, das ich nur allzu gerne annahm. Die Ankündigung erschien in einer Lokalzeitung zusammen mit einem Foto, das mich mit breitem Grinsen zwischen einem halben Dutzend Bikinischönheiten zeigte. Das war den anderen nun endgültig zu viel, und aus Respekt vor ihnen zog ich meine Zusage zurück. Aber ich war immer noch überzeugt, dass meine Freunde sich selbst ein wenig zu ernst nahmen.War die Welt uns nicht nach allem, was wir durchgemacht hatten, ein wenig Spaß schuldig? Spaß war zu jener Zeit das Einzige, was mich interessierte. Ich sagte mir, dass ich mein Leben genoss und die Zeit aufholte, die ich im Gebirge verloren hatte.Aber vielleicht machte ich mir damit
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