72 Tage in der Hoelle
Vater. Er fragte nicht viel nach den Dingen, die in den Bergen vorgefallen waren, und ich spürte, dass er immer noch nicht in der Lage war, sich die Einzelheiten anzuhören, aber er wollte mir mitteilen, wie sein Leben in den langen Wochen nach meiner Abreise verlaufen war. Er war am 13. Oktober um 16.30 Uhr – also genau zu der Zeit, als das Flugzeug abstürzte – gerade auf dem Weg zu seiner Bank in Montevideo, wo er eine Einzahlung vornehmen wollte. Irgendetwas ließ ihn jedoch ganz plötzlich innehalten.
»Der Eingang zur Bank war nur ein paar Schritte entfernt, aber ich brachte es einfach nicht fertig, weiterzugehen«, erzählte er. »Es war wirklich seltsam. Auf einmal hat die Bank mich überhaupt nicht mehr interessiert. Ich bekam Magendrücken und wollte nur noch nach Hause.«
Während seines ganzen Lebens hatte mein Vater nur sehr wenige Male seine Arbeit liegen lassen, aber an diesem Tag war ihm das Büro gleichgültig, und er fuhr zu unserem Haus in Carrasco. Dort machte er sich eine Tasse Mate und schaltete den Fernseher ein, wo gerade in Sondernachrichten berichtet wurde, dass eine uruguayische Chartermaschine in den Anden vermisst wurde. Da er nichts von unserer außerplanmäßigen Übernachtung in Mendoza wusste, beruhigte er sich mit dem Gedanken, dass wir schon am Nachmittag zuvor in Santiago eingetroffen sein mussten. Dennoch beschlich ihn bei den Nachrichten ein Gefühl der Angst. Ungefähr eine Stunde nachdem er nach Hause gekommen war, klopfte es dann an seiner Tür.
»Es war Oberst Jaume«, erklärte mein Vater – so hieß ein Bekannter, der als Offizier bei der Luftwaffe unseres Landes tätig war. »Draußen wartet mein Wagen«, sagte er. »Ich möchte, dass Sie mitkommen. Ich fürchte, wir haben schlechte Nachrichten …« Der Oberst brachte meinen Vater in sein Haus, und dort bestätigten sich seine schlimmsten Befürchtungen – bei dem vermissten Flugzeug handelte es sich tatsächlich um unseres. Am nächsten Tag saß mein Vater bereits in einer Maschine nach Santiago. Dort sollten chilenische Beamte bei einer Besprechung erläutern, was sie über den Absturz wussten. Die Route führte über die Anden, und als er in das Gebirge unter sich hinabblickte, lief es ihm eiskalt über den Rücken bei dem Gedanken, dass seine Frau und seine Kinder in einer so erbarmungslosen Gegend abgestürzt sein könnten. »In diesem Augenblick habe ich jede Hoffnung aufgegeben«, erzählte er mir. »Ich wusste, dass ich euch alle nie wiedersehen würde.«
Die folgenden Wochen waren für ihn genauso entsetzlich, wie ich es mir in den Bergen ausgemalt hatte. Er konnte weder schlafen noch essen. Weder Gebete noch die Gesellschaft anderer Menschen verschafften ihm Trost. Andere Eltern gaben die Hoffnung nicht so schnell auf. Einige Mütter trafen sich regelmäßig und beteten für uns. Eine Gruppe von Vätern unter Führung von Carlitos’Vater Carlos Paez-Villaro hatte sogar Suchaktionen in die Wege geleitet und war mit angemieteten Flugzeugen und Hubschraubern über die Regionen der Anden geflogen, in denen die Fairchild nach Angaben der Behörden abgestürzt sein könnte. Mein Vater hatte diese Aktivitäten finanziell unterstützt, obwohl sie nach seiner Ansicht reine Zeitvergeudung waren. »Wenn ein Flugzeug in den Anden abstürzt, ist es ein für allemal weg«, sagte er. »Ich wusste, dass wir großes Glück haben mussten, damit das Gebirge auch nur einen kleinen Teil des Flugzeugwracks preisgeben würde.«
Als mein Vater sich an keine Hoffnung mehr klammern konnte, fiel er in ein tiefes Loch. Er war jetzt in sich gekehrt und teilnahmslos. Schweigend saß er stundenlang herum oder ging, mit meinem Hund Jimmy als einzigem Begleiter, ziellos am Strand auf und ab. »Deine Mutter war meine Kraftquelle«, erzählte er mir. »Ich hätte sie damals dringend gebraucht, aber sie war weg, und ohne sie war ich verloren.« Im Laufe der Tage nahm seine Apathie zu, und mehr als einmal hätte die Trauer ihn fast in den Wahnsinn getrieben. »Eines Tages habe ich mit Lina zu Mittag gegessen«, berichtete er. »Das Haus war so still. Am Tisch waren so viele leere Plätze. Ich habe die Gabel hingelegt und gesagt: ›Mama, ich kann nicht hierbleiben.‹ Dann habe ich das Haus verlassen und bin spazieren gegangen.«
Stundenlang, den ganzen Nachmittag und bis in den Abend hinein, wanderte er durch die Straßen. Sein Kopf war leer bis auf den vagen Gedanken, dass er in Bewegung bleiben musste, dass er durch einfaches
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