72 Tage in der Hoelle
selbst etwas vor. Heute bin ich überzeugt, dass im Mittelpunkt meiner Seele ein taubes Gefühl war, eine Leere, die ich ausfüllen wollte, indem ich Nacht für Nacht unterwegs war. Immer noch leugnete ich die Schmerzen, die ich seit den ersten Tagen der Katastrophe in mir spürte. Ich war auf der Suche nach einem ungefährlichen Weg, etwas zu fühlen .
Eines Abends unterhielt ich mich in Punta in einem Nachtclub namens 05 mit meiner Begleiterin. Wir schlürften eine Cola, als mich die Realität plötzlich einholte – es war wie ein Schlag mit dem Knüppel auf den Kopf. In demselben Club war ich oft mit Panchito gewesen, und jetzt ertappte ich mich dabei, wie ich aus alter Gewohnheit wartete, dass er zur Tür hereinkam. Ich hatte seit unserer Rettung oft an ihn gedacht, aber an jenem Abend und an jenem Ort vermisste ich ihn geradezu schmerzlich: Ich bekam Bauchweh und begriff mit brutaler Endgültigkeit, dass er nicht mehr da war. Die Erkenntnis dieses Verlustes rückte mir auch alle anderen Verluste wieder ins Bewusstsein, und zum ersten Mal, seit die Fairchild in die Berge gestürzt war, musste ich weinen. Ich senkte den Kopf und konnte mein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Meine Begleiterin war sehr nett und brachte mich nach Hause. Stundenlang saß ich danach auf dem Balkon meiner Wohnung und blickte, allein mit meinen Gedanken, aufs Meer hinaus. Als ich so darüber grübelte, was mir alles genommen worden war, machte die Trauer sehr schnell der Wut Platz. Warum war das alles geschehen? Warum musste ich so viel Leid erdulden, während so viele andere fröhlich durchs Leben gehen durften? Stundenlang saß ich so da, verfluchte Gott oder mein Schicksal und quälte mich mit sinnlosen Gedanken: Hätten die Piloten doch nur den Bergkamm früher gesehen. Hätte Panchito doch nur auf einem anderen Platz gesessen. Hätte ich doch meine Mutter und meine Schwester nicht gefragt, ob sie mitkommen wollen. Ich dachte an die Jungs, die von der Reise im letzten Augenblick abgesprungen waren oder die Maschine verpasst hatten und einen anderen Flug nehmen mussten. Warum war ich nicht wie diese Jungen verschont geblieben? Warum musste ausgerechnet mein Leben zerstört werden?
Als ich im Laufe der Stunden immer tiefer in solche verbitterten Gedanken versank, wurde meine Wut derart stark, dass ich überzeugt war, ich würde es dem Leben nie mehr verzeihen, dass es mich so um meine glückliche Zukunft betrogen hatte. Aber irgendwann vor dem Morgengrauen, als die Müdigkeit meinen Zorn abmilderte, fiel mir wieder ein, welchen Rat mein Vater mir in Viña del Mar gegeben hatte: Du hast eine Zukunft. Du hast dein Leben vor dir .
Als ich über diese Worte nachdachte, wurde mir klar, welchem Irrtum ich erlegen war. Ich hatte in der Katastrophe einen entsetzlichen Fehler gesehen, als nicht drehbuchgerechte Abweichung von der glücklichen Lebensgeschichte, die mir versprochen war. Jetzt begriff ich allmählich, dass mein Martyrium in den Anden keine Unterbrechung meines eigentlichen Schicksals war, keine Umkehrung dessen, was mein Leben eigentlich sein sollte. Es war ganz einfach mein Leben, und die vor mir liegende Zukunft war die Einzige, die ich hatte. Wenn ich vor dieser Tatsache die Augen verschloss oder mit Verbitterung und Wut reagierte, schadete ich mir letztlich nur selbst. Vor dem Absturz hatte ich vieles für selbstverständlich angesehen, aber dann hatten die Berge mir gezeigt, dass das Leben – jedes Leben – ein Wunder ist. Und jetzt hatte ich auf wundersame Weise die Chance erhalten, ein zweites Mal zu leben. Es war nicht das Leben, das ich mir erwartet oder gewünscht hätte, aber ich begriff, dass es jetzt meine Pflicht war, dieses Leben nach Kräften erfüllt und hoffnungsvoll zu gestalten. Ich schwor mir, es zu versuchen. Ich wollte voller Leidenschaft und Neugier leben, jeden Augenblick auskosten, mich jeden Tag darum bemühen, mein Leben zu schätzen. Weniger zu tun, das wurde mir jetzt klar, wäre eine Beleidigung für jene, die nicht überlebt hatten.
Als ich dieses Gelübde ablegte, rechnete ich nicht damit, dass ich am Ende glücklich sein würde. Ich spürte nur, dass es meine Pflicht war, die Chance, die ich bekommen hatte, so gut wie möglich zu nutzen. Also öffnete ich mich, und ich hatte das Glück, dass mein neues Leben sich zu entfalten begann.
Im Januar 1973 luden mich Bekannte ein, mit ihnen zum Großen Preis von Argentinien nach Buenos Aires zu fahren. Ich hatte zu jener Zeit keine
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