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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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Weitergehen mehr Distanz zu seinem Schmerz gewinnen konnte. Schließlich fand er sich auf der weiten Rasenfläche der Plaza Matriz wieder, des historischen Platzes im Zentrum von Montevideo. Vor ihm erhoben sich die düsteren, verzierten Türme der Catedral Metropolitana, die 1740 von den spanischen Kolonialherren errichtet wurde. Mein Vater war kein religiöser Mensch, aber irgendetwas zog ihn in die Kirche, vielleicht die Sehnsucht nach Frieden oder ein wenig Trost, an den er sich klammern konnte. Er kniete nieder und versuchte zu beten, empfand dabei aber nichts. In der Kirchenbank zusammengesunken, sah er auf die Armbanduhr und stellte zu seinem Schrecken fest, dass er schon seit über zehn Stunden durch die Gegend lief. Aus Angst, er könne den Verstand verlieren, verließ er die Kirche und machte sich auf den Heimweg.
    »In diesem Augenblick habe ich mir gesagt, dass ich in meinem Leben alles ändern muss«, erzählte er. Und als könne er die Schmerzen lindern, indem er sich von allem löste, was ihn mit der Vergangenheit verband, ging mein Vater daran, sein Leben auseinanderzunehmen. Er verkaufte seinen geschätzten Mercedes und den geliebten Rover meiner Mutter. Er bot die Wohnung in Punta del Este zum Verkauf an und bereitete alles vor, um auch unser Haus in Carrasco zu veräußern. Sogar die Firma, die er während seines ganzen Lebens aufgebaut hatte, wollte er verkaufen, aber Graciela und Juan bekamen Wind von seinen Plänen und redeten ihm sein unbarmherziges Vorhaben aus, bevor er allzu viel Schaden angerichtet hatte. »Ich wusste nicht mehr, was ich tat«, berichtete er. »Manchmal konnte ich klar denken, in anderen Augenblicken war ich völlig durch den Wind. In diesen Tagen war mir nichts mehr wichtig. Nachdem das Flugzeug abgestürzt war, hatte nichts mehr einen Sinn.«
    Als mein Vater erfuhr, dass man Roberto und mich in den Bergen gefunden hatte, mochte er es zunächst nicht glauben. Erst ganz allmählich ließ er den Gedanken zu, dass es stimmte. Am Morgen des 23. Dezember stieg er mit Graciela, Juan und anderen Angehörigen der Absturzopfer in eine Chartermaschine nach Santiago. Die Namen der anderen Überlebenden hatte man noch nicht bekannt gegeben, und als mein Vater über die Anden flog, machte er sich hochfliegende Hoffnungen. »Wenn da überhaupt noch jemand am Leben ist, dann nur deshalb, weil deine Mutter sie rausgeholt hat«, sagte er zu meiner Schwester. Stunden später lagen wir uns in den Armen, und ich musste ihm zu verstehen geben, dass er sich vergeblich Hoffnungen gemacht hatte; meine Mutter und meine Schwester hatten nicht überlebt.
    In Viña del Mar sagte ich eines Tages zu ihm: »Papa, es tut mir leid, dass ich Mami und Susy nicht retten konnte.« Er lächelte traurig und fasste mich am Arm. »Als ich sicher war, dass ihr alle tot seid, wusste ich, dass ich mich von dem Verlust nie mehr erholen würde«, erwiderte er. »Es war, als wäre mein Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt und als hätte ich alles, was ich besitze, für immer verloren. Und jetzt, wo ich dich wiederhabe, ist es so, als hätte ich in der Asche etwas Kostbares gefunden. Ich fühle mich wie neugeboren. Mein Leben kann von vorn beginnen. Von jetzt an werde ich mir Mühe geben, nicht mehr über das zu trauern, was mir genommen wurde, sondern glücklich zu sein über das, was ich zurückbekommen habe.« Mir riet er, das Gleiche zu tun. »Morgen geht wieder die Sonne auf«, sagte er, »und übermorgen und überübermorgen auch. Lass nicht zu, dass dies zum Wichtigsten wird, was dir in deinem Leben zugestoßen ist. Blick nach vorn. Du hast eine Zukunft. Du hast dein Leben vor dir.«
     
     
    Am 30. Dezember reisten wir mit dem Flugzeug aus Viña del Mar in Richtung Montevideo ab. Der Gedanke, noch einmal über die Anden zu fliegen, machte mir entsetzliche Angst, aber mit Hilfe eines Beruhigungsmittels, das mir ein chilenischer Arzt verschrieben hatte, konnte ich an Bord der Maschine gehen. Als wir in Carrasco ankamen, hatte sich auf der Straße vor unserem Haus eine Menschenmenge aus Freunden und Nachbarn versammelt, um mich zu begrüßen. Ich schüttelte Hände und nahm Umarmungen entgegen, dann stieg ich die lange Treppe vom Bürgersteig zur Haustür hoch. Oben wartete Lina, meine Großmutter. Ich fiel ihr in die Arme, und sie liebkoste mich mit ungeheurer Kraft und bittersüßer Zuneigung. Ich wusste ganz genau, dass sie damit in Gedanken auch meine Mutter und Susy umarmte. Wir gingen alle ins Haus. Vor

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