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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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warmherzigen Verhalten gegenüber den Bediensteten im Haus seines Vaters, die ihn wie einen Sohn liebten. Vor allem aber sah ich in ihm einen Menschen, der sich im Leben nichts so sehr wünschte wie die Freuden eines glücklichen Familienlebens. Ich kannte sein Innerstes. Ich konnte in seine Zukunft blicken. Irgendwann würde er die Frau kennen lernen, die ihn zähmte. Dann würde er ein guter Ehemann und liebevoller Vater werden. Auch ich würde heiraten. Unsere Familien würden unzertrennlich sein, und unsere Kinder würden gemeinsam aufwachsen. Natürlich sprachen wir nie über so etwas – schließlich waren wir noch keine zwanzig Jahre alt -, aber er wusste wohl, dass ich ihn verstand, und ich glaube, dieses Wissen stärkte die Bande unserer Freundschaft.
    Noch waren wir allerdings junge Männer, und die Zukunft lag in weiter Ferne. Ehrgeiz undVerantwortung konnten warten. Wie Panchito, so lebte auch ich im Hier und Jetzt. Für ernste Dinge war später noch Zeit. Ich war jung, wollte meinen Spaß haben und ließ es mir gut gehen. Dabei war ich nicht faul oder selbstverliebt. Ich hielt mich für einen guten Sohn, einen harten Arbeiter, einen zuverlässigen Freund und einen ehrlichen, anständigen Menschen. Ich hatte es nur einfach nicht eilig, erwachsen zu werden. Leben war für mich etwas, das sich heute abspielte. Ich hatte keine strengen Grundsätze, keine fest umrissenen Ziele oder Antriebe. Hätte man mich zu jener Zeit nach dem Sinn und Zweck des Lebens gefragt, hätte ich wahrscheinlich gelacht und geantwortet: »Spaß haben«. Damals kam ich nicht im Entferntesten auf die Idee, dass ich mir den Luxus dieser sorgenfreien Einstellung nur leisten konnte, weil mein Vater große Opfer brachte: Er hatte sein Leben schon in jungen Jahren sehr ernst genommen, sich Ziele gesetzt und mir in Jahren der Disziplin und Selbstbeherrschung jenes privilegierte, sichere, lässige Leben ermöglicht, das ich so beiläufig für selbstverständlich nahm.
    Mein Vater Seler Parrado wurde in Estación Gonzales geboren, einem staubigen Kaff im fruchtbaren Landesinneren von Uruguay, wo riesige Rinderfarmen, die estancias , das bekannte, allgemein geschätzte uruguayische Qualitätsrindfleisch produzieren. Sein Vater war ein armer Hausierer gewesen, der mit seinem Pferdewagen von einer estancia zur nächsten zog und dort Sättel, Zaumzeug, Stiefel und andere Gegenstände des landwirtschaftlichen Bedarfs verkaufte; seine Abnehmer waren entweder die Farmbesitzer oder die raubeinigen Gauchos, die die Herden beaufsichtigten. Es war ein schwieriges Leben voller Entbehrungen und Unsicherheiten, mit wenig Komfort. (Immer wenn ich über mein Leben murrte, erinnerte er mich daran, dass in seiner Jugend eine fünfzehn Meter vom Haus entfernte Wellblechhütte als Badezimmer diente und dass er nie eine Rolle Toilettenpapier zu Gesicht bekommen hatte, bis er elf Jahre alt war und mit seiner Familie nach Montevideo zog.)
    Das Landleben ließ für Ruhe oder Spiele wenig Zeit. Jeden Tag ging mein Vater über unbefestigte Wege zur Schule und wieder zurück, und darüber hinaus wurde von ihm erwartet, dass er seinen Teil zum täglichen Überlebenskampf der Familie beitrug. Mit sechs Jahren arbeitete er bereits stundenlang auf dem kleinen Gehöft seiner Eltern, hütete Hühner und Enten, holte Wasser aus dem Brunnen, sammelte Brennholz und half seiner Mutter im Gemüsegarten. Als er acht war, machte sein Vater ihn zu seinem Assistenten, und nun saß er lange Stunden auf dem Handelswagen, mit dem sie die Runde von einer Ranch zur nächsten machten. Es war alles andere als eine sorgenfreie Kindheit, aber er lernte den Wert harter Arbeit kennen und erfuhr, dass ihm nichts geschenkt wurde – dass sein Leben nur das war, was er selbst daraus machte.
    Als mein Vater elf war, zog seine Familie nach Montevideo. Dort eröffnete sein Vater einen Laden und vertrieb die gleichen Waren, die er auch auf dem Land an die Rinderzüchter und Bauern verkauft hatte. Seler wurde Automechaniker – er hatte schon als kleiner Junge eine Leidenschaft für Autos und Motoren gehabt -, aber als er Mitte zwanzig war, entschloss sich mein Großvater, sich zur Ruhe zu setzen, und mein Vater übernahm den Laden. Großvater hatte das Geschäft an einer klugen Stelle in der Nähe des Hauptbahnhofs von Montevideo aufgemacht. Damals war die Eisenbahn das wichtigste Verkehrsmittel für Reisen vom Land in die Stadt, und wenn Rancher und Gauchos zum Einkaufen kamen, standen sie nach dem

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