72 Tage in der Hoelle
war für ihn ein echter Schock, und anfangs weigerte er sich, nachzugeben, aber wir sagten ihm, es sei nicht mehr seine Entscheidung. Es war bereits alles in die Wege geleitet worden, und wir gaben ihm durch unseren Gesichtsausdruck zu verstehen, dass Widerstand zwecklos war. Glücklicherweise erholte Carlitos sich völlig. Seither ist er immer nüchtern geblieben, und jetzt berät er ehrenamtlich Menschen, die mit Suchtmittelmissbrauch und Abhängigkeit zu kämpfen haben. Carlitos ist Manager bei einem PR-Unternehmen in Montevideo. Außerdem spielt er so leidenschaftlich gern Golf, dass er sich kürzlich ein Haus unmittelbar neben dem Fairway eines Golfclubs gekauft hat. Seine größte Leidenschaft jedoch ist heute seine Enkeltochter Justine, das Kind seiner Tochter Gochi. Sein ganzes Leben dreht sich um das Baby, und es macht Spaß zuzusehen, welche Freude er daran hat. Einmal sagte Carlitos zu mir: »Wir gehen weiter unseren Weg und haben dabei die Gewissheit, dass das Leben lebenswert ist, dass nichts unmöglich ist, wenn wir Zuneigung und Solidarität erfahren und wenn wir Menschen um uns haben, die bereit sind, im Ernstfall anderen die Hand zu reichen.« Carlitos hat in seinem Leben mehr als ein Martyrium durchlitten, aber auch er hat gelernt, das Glück zu finden, und in seiner Gesellschaft bin ich immer glücklich.
Alvaro Mangino war eines der jüngsten Absturzopfer. Vielleicht war das der Grund, warum ich ihm gegenüber im Gebirge immer einen besonderen Beschützerinstinkt empfand. Aus ihm ist ein äußerst überlegter, ruhiger Mann geworden, der die schrecklichen Erlebnisse hinter sich lassen konnte. Er hat durch das Unglück viel gelernt, aber sein Leben ging danach weiter. Schon seit vielen Jahren ist er mit seiner Frau Margarita verheiratet und hat vier Kinder großgezogen. Lange Zeit lebte er in Brasilien, erst kürzlich ist er nach Montevideo zurückgekehrt und arbeitet hier bei einer Firma für Heizungs- und Klimaanlagen. Außerdem sitzt er im Vorstand der Old Christians. Er ist ein loyaler, zuverlässiger Freund, und ich bin froh, dass er wieder in meiner Nähe wohnt.
Alvaro steht Coche Inciarte, einem anderen guten Freund, besonders nahe. Coche war wohl unter allen Überlebenden der Ruhigste, Freundlichste und Nachdenklichste. Er hat von Natur aus ein sanftes, friedliebendes Wesen – ehrlich gesagt, habe ich noch nie erlebt, dass er laut geworden wäre. Er ist wortgewandt und mit einem scharfen Verstand gesegnet. Obwohl er oft Witze macht und andere auf den Arm nimmt, hat er ein tiefes emotionales Verständnis für das, was wir durchgemacht haben, und er macht nie einen Hehl daraus, wie eng er sich mit uns anderen verbunden fühlt. Coche heiratete seine Jugendliebe Soledad, die schon geglaubt hatte, sie hätte ihn in den Bergen verloren. Das Wiedersehen kam für beide einem Wunder gleich, und Coche hat nie vergessen, welches Wunder es ist, dass er sie hat und drei Kinder großziehen konnte.
Coche war Milchbauer und lange einer der größten Milchprodukte-Erzeuger Uruguays. Kürzlich verkaufte er seine Firmengruppe und setzte sich zur Ruhe, um sich stärker der Familie zu widmen und mehr Zeit für seine große Leidenschaft zu haben: die Malerei.Wie sich herausstellte, ist Coche ein begabter Künstler. Ein Gemälde von ihm hängt heute in meinem Büro, und jedes Mal, wenn ich es sehe, denke ich an ihn; in seinen Kunstwerken offenbaren sich die Tiefsinnigkeit, Sanftheit und Würde, die ihn auch zu einem so guten Freund machen.
Aus dem Führungs-Triumvirat der so genannten »Cousins« war vor allem Eduardo Strauch in den Bergen eine wichtige Gestalt. Mit seinen klaren, wohl überlegten Gedanken trug er dazu bei, uns in unserem täglichen Überlebenskampf Stabilität und Orientierung zu geben. Heute ist er mehr oder weniger der Gleiche wie in den Anden: nachdenklich und konzentriert, ein Mann der knappen Worte, bei dem das Zuhören aber immer lohnt. Eduardo und seine Frau Laura haben vier Kinder. Er ist in Montevideo ein angesehener Architekt und hat in der Stadt viele schöne Wohnhäuser und andere Bauwerke errichtet; auch mein erstes Haus stammt von ihm.
Eduardos Cousin Daniel Fernandez besitzt immer noch ebenso viel Humor und Charisma wie damals in dem Wrack des Flugzeugrumpfes, wo er den Druck und die Ängste linderte. Er ist ein großartiger Geschichtenerzähler und besitzt die Gabe, die Fantasie seiner Zuhörer wirklich zu fesseln. Wenn Daniel, der der politischen Partei der Blancos
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