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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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ab, und für uns nimmt Er sich Zeit?«
    Liliana seufzte, und ich spürte ihren warmen Atem auf meinem Gesicht. »Du machst es zu kompliziert«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Wir können nichts anderes tun, als Gott zu lieben und andere Menschen zu lieben und auf Gottes Willen zu vertrauen.«
    Lilianas Worte überzeugten mich nicht, aber ihre Wärme und Freundlichkeit waren ein großer Trost. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie sie sich nach ihren Kindern sehnte, und sprach ein Gebet, sie möge bald wieder bei ihnen sein. Dann schloss ich die Augen und glitt in meinen üblichen dumpfen Halbschlaf. Eine Zeit lang, vielleicht eine halbe Stunde, döste ich, dann wachte ich verängstigt und orientierungslos auf, weil eine gewaltige, schwere Kraft auf meine Brust schlug. Irgendetwas stimmte nicht. Ich spürte etwas Eisiges, Nasses im Gesicht, und ein erdrückendes Gewicht presste mich so heftig zu Boden, dass mir die Luft aus der Lunge gedrückt wurde. Nach kurzer Verwirrung wurde mir klar, was geschehen war: Eine Lawine war den Berg hinuntergerollt und hatte den Flugzeugrumpf mit Schnee gefüllt. Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen, dann hörte ich ein langsames, feuchtes Quietschen: Der Schnee kam unter seinem eigenen Gewicht zur Ruhe und schichtete sich um mich herum auf wie Felsen. Ich wollte mich bewegen, aber es war ein Gefühl, als sei mein Körper in Beton eingegossen; ich konnte nicht einmal einen Finger krümmen. Es gelang mir, ein paar flache Atemzüge zu tun, aber der Schnee drang mir in Mund und Nase, sodass ich keine Luft mehr bekam. Der Druck auf der Brust erschien mir anfangs unerträglich, aber als ich zunehmend benommener wurde, bemerkte ich diese Unannehmlichkeit nicht mehr. Ruhig und klar kam mir der Gedanke vom Ende. »Das ist mein Tod«, sagte ich mir. »Jetzt werde ich erfahren, wie es auf der anderen Seite aussieht.« Ich empfand nicht viel dabei, versuchte auch nicht, zu schreien oder mich zu befreien. Ich wartete einfach, und als ich mich mit meiner Hilflosigkeit abgefunden hatte, überkam mich ein Gefühl des Friedens. Geduldig wartete ich ab, dass mein Leben zu Ende ging. Es gab keine Engel, keine Offenbarungen, keinen langen Tunnel, der in ein goldenes, liebevolles Licht führte. Stattdessen spürte ich nur die gleiche schwarze Stille, in die ich gestürzt war, als die Fairchild den Berg gerammt hatte. In dieser Stille trieb ich auch jetzt. Ich ließ meinen Widerstand ersterben. Es war vorüber. Keine Angst mehr. Keine Anstrengung. Nur bodenloses Schweigen und Ruhe.
    Dann klaubte eine Hand den Schnee von meinem Gesicht, und ich wurde wieder in die Welt der Lebenden gezerrt. Jemand hatte durch über einen Meter Schnee einen schmalen Tunnel gegraben, um zu mir zu gelangen. Ich spuckte den Schnee aus und sog die kalte Luft in die Lunge, obwohl das Gewicht auf meiner Brust tiefe Atemzüge erschwerte.
    Über mir hörte ich Carlitos Stimme. »Wer ist das?«, rief er.
    »Ich«, stotterte ich, »Nando.«
    Dann ging er weg. Über mir hörte ich großes Durcheinander, schreiende und schluchzende Stimmen.
    »Grabt nach den Gesichtern!«, rief jemand. »Seht zu, dass sie Luft bekommen!«
    »Coco! Wo ist Coco?«
    »Helft mir hier!«
    »Hat jemand Marcelo gesehen?«
    »Wie viele haben wir? Wer fehlt noch?«
    »Irgendjemand muss mal zählen!«
    Dann hörte ich Javiers hysterische Stimme. »Liliana? Liliana? Helft ihr doch! Halt durch, Liliana! Bitte, schnell, ihr müsst sie finden!«
    Das Chaos dauerte nur wenige Minuten, dann trat Stille ein. Wenig später hatten sie mich ausgegraben, und ich konnte aus dem Schnee aufstehen. In dem dunklen Flugzeugrumpf warf das Feuerzeug, das Pancho Delgado in der Hand hatte, ein gespenstisches Licht. Ich sah einige meiner Freunde bewegungslos daliegen. Andere erhoben sich aus dem Schnee wie Zombies aus ihren Gräbern. Javier kniete neben mir, Liliana in den Armen. Ihr Kopf und ihre Arme hingen schlaff herunter, und ich wusste, dass sie tot war. »Nein«, sagte ich kategorisch. »Nein.« Als könnte ich mit dem, was gerade geschehen war, diskutieren. Als könnte ich ihm verbieten,Wirklichkeit zu sein. Ich blickte die anderen an, die um mich herumstanden. Einige weinten, einige trösteten Javier, andere starrten einfach mit benommenem Blick ins Dunkle. Kurze Zeit sprach niemand, aber als der Schock nachließ, erzählten mir die anderen, was sie gesehen hatten.
    Es hatte mit einem dumpfen Grollen in den Bergen begonnen. Roy Harley hörte das Geräusch und

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