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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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für die besseren – im Sport wie in allen anderen Bereichen. Mit seiner Starrköpfigkeit war er als Freund sehr schwierig, und selbst unter den angenehmen Lebensumständen in Carrasco konnte er arrogant und anmaßend sein. In der bedrückenden Atmosphäre im Flugzeugrumpf war sein Verhalten oft unerträglich. Immer wieder setzte er sich über Entscheidungen der Gruppe hinweg und legte sich mit jedem an, der ihn zur Rede stellte. Dann hagelte es Beschimpfungen und Beleidigungen in dem streitsüchtigen Falsettton, in den er stets verfiel, wenn er erregt war. Er konnte von brutaler Rücksichtslosigkeit sein: Wenn er beispielsweise nachts das Flugzeug verlassen musste, um sich zu erleichtern, trat er einfach auf die Arme und Beine aller, die im Wege lagen. Er schlief, wo er wollte, auch wenn er dazu andere von ihren Plätzen wegschieben musste. Der Umgang mit Robertos hitzigem Temperament und seinem konfliktträchtigen Verhalten führte zu Spannungen, die wir nicht brauchen konnten, und es kostete uns Kraft, die zu verschwenden wir uns nicht leisten durften; mehr als einmal hätte seine starrsinnige Aggressivität fast zu Handgreiflichkeiten geführt.
    Aber obwohl Roberto ein so schwieriger Charakter war, hatte ich Achtung vor ihm. Er war der Intelligenteste und Fantasievollste von uns allen. Ohne seine zupackende medizinische Versorgung unmittelbar nach dem Absturz wären viele vielleicht schon tot, und auch von seiner Erfindungsgabe hatten wir profitiert. Er hatte erkannt, dass man die Sitzbezüge der Fairchild abnehmen und als Decken verwenden konnte, eine Erfindung, die uns möglicherweise vor dem Erfrieren bewahrte. Unsere einfachen Werkzeuge und das kleine Sortiment an medizinischem Material hatte er zum größten Teil provisorisch aus Gegenständen hergestellt, die wir aus dem Wrack geborgen hatten. Und trotz seines Dranges zur Selbstdarstellung wusste ich, dass er gegenüber uns anderen ein starkes Verantwortungsgefühl empfand. Nachdem er gesehen hatte, welche Qualen Arturo und Rafael nachts auf dem Fußboden des Wracks gelitten hatten (wobei er sie wütend angefaucht hatte, sie sollten mit ihrem jämmerlichen Stöhnen aufhören), verwendete er am nächsten Morgen viele Stunden auf die Konstruktion der schwingenden Hängematten, die den beidenVerletzten eine gewisse Linderung ihrer Schmerzen verschafften. Sein Beweggrund für solche Dinge war eigentlich kein Mitleid, sondern eher eine Art Pflichtgefühl. Er kannte seine Fähigkeiten und Begabungen, und da erschien es ihm einfach sinnvoll, wenn er das tat, wozu kein anderer in der Lage war.
    Robertos Erfindungsreichtum wäre von großem Vorteil für mich, das wusste ich ganz genau. Ich traute ihm auch zu, unsere Lage realistisch einschätzen zu können – er begriff, in welcher verzweifelten Situation wir waren und dass unsere einzige Hoffnung darin bestand, uns selbst zu helfen. Aber der eigentliche Grund, weshalb ich ihn dabeihaben wollte, war, weil er Roberto war, der entschlossenste und willensstärkste Mensch, den ich jemals kennen gelernt hatte.Wenn es in unserer Gruppe jemanden gab, der den Anden mit schierer Halsstarrigkeit Paroli bieten konnte, dann war es Roberto. Er war sicher kein einfacher Reisegefährte, und ich machte mir Sorgen, er könne uns unterwegs mit seinem schwierigen Charakter in Konflikte stürzen; damit hätte er alles zunichte gemacht. Intuitiv begriff ich jedoch, dass Robertos Willenskraft und sein starkes Selbstbewusstsein eine ideale Ergänzung zu den ungezügelten Impulsen waren, die mich dazu drängten, blindlings loszustürmen. Mit meinem manischen Fluchtwillen wäre ich dann der Motor, der uns durch das Gebirge trieb, und Robertos Streitlust wäre die Bremse, die mich daran hinderte, die Kontrolle zu verlieren. Welche Entbehrungen in der Wildnis vor uns lagen, konnte ich nicht wissen, aber mir war klar, dass Roberto mich unterwegs stärker und leistungsfähiger machen würde. Er war derjenige, den ich an meiner Seite brauchte. Als der richtige Zeitpunkt gekommen war und wir unter vier Augen miteinander sprechen konnten, fragte ich ihn, ob er mit mir kommen würde.
    »Wir müssen es tun, Roberto«, sagte ich. »Du und ich. Wir haben von allen hier die besten Chancen.«
    »Du bist verrückt, Nando«, schnauzte er mich an, wobei seine Stimme eine höhere Tonlage annahm. »Sieh dir doch nur diese verfluchten Berge an. Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie hoch die sind?«
    Ich blickte zum höchsten Gipfel hinauf. »Vielleicht

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