72 Tage in der Hoelle
und Ängste.
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Das Grab
In der letzten Oktoberwoche hatten wir die Gruppe zusammengestellt, die sich von der Absturzstelle auf den Weg machen und Hilfe holen sollte. Dass ich dabei war, stand für alle außer Zweifel – sie hätten mich an den Felsen festbinden müssen, um mich daran zu hindern. Roberto hatte sich am Ende bereit erklärt, mitzukommen. Vervollständigt wurde das Team durch Fito und Numa. Die anderen Überlebenden stimmten der Auswahl zu und bezeichneten uns nun als »Expeditionsteam«. Es wurde entschieden, dass wir ab sofort größere Nahrungsrationen erhielten, um Kräfte zu sammeln. Ebenso gab man uns die wärmsten Kleidungsstücke und die besten Schlafplätze, und wir wurden von Alltagstätigkeiten befreit, sodass wir unsere Energie für die Wanderung aufsparen konnten.
Nachdem wir das Expeditionsteam bestimmt hatten, erschienen unsere Fluchtpläne endlich realistisch, und die Stimmung in der Gruppe besserte sich. Nach zwei Wochen im Gebirge hatten wir auch andere Gründe zur Hoffnung: Trotz aller Qualen und Schrecken war seit dem achten Tag, als ich Susy verloren hatte, niemand mehr gestorben. Die gefrorenen Leichen im Schnee lieferten genug Nahrung, damit wir am Leben blieben, und obwohl wir in den eisigen Nächten immer noch litten, wussten wir doch, dass die Kälte uns nicht umbringen würde, wenn wir uns im Rumpf der Fairchild zusammendrängten. Zwar waren wir nach wie vor in einer kritischen Lage, aber wir hatten den Eindruck, als liege der Höhepunkt der Krise hinter uns. Die Verhältnisse waren stabiler. Wir hatten die unmittelbaren Gefahren beseitigt und spielten jetzt ein Spiel des Wartens, Ausruhens und Kräftesammelns: Wenn das Wetter sich besserte, würden wir uns auf den Weg machen. Vielleicht hatten wir die schlimmsten Schrecken überstanden. Vielleicht war es allen siebenundzwanzig bestimmt, am Leben zu bleiben. Warum hatte Gott uns sonst bis jetzt verschont? Mit solchen Gedanken trösteten sich viele von uns, als wir am Abend des 29. Oktober in den Rumpf krochen und uns zum Schlafen bereit machten.
Es war eine windige Nacht. Ich ließ mich auf dem Fußboden nieder, neben mir lag Liliana. Sie hatte das Gesicht zu Javier gewandt und unterhielt sich eine Zeit lang leise mit ihm. Wie immer sprachen sie über ihre Kinder. Liliana machte sich immerzu Sorgen um sie, und Javier versicherte ihr, die Großeltern würden sich sicher gut um sie kümmern. Ich war gerührt von der Zärtlichkeit zwischen den beiden. Zwischen ihnen bestand eine solche Nähe, ein solches Gefühl der Partnerschaft, als wären sie ein einziger Mensch. Vor dem Absturz hatten sie das Leben geführt, von dem ich immer geträumt hatte: eine stabile Ehe, ein schönes Zuhause und eine liebevolle Familie. Ich fragte mich, ob sie irgendwann in dieses Leben zurückkehren würden. Und was war mit mir? Würden meine eigenen Aussichten auf ein solches Glück mit mir in dieser eisigen Hölle sterben? Ich ließ die Gedanken schweifen: Wo war in diesem Augenblick die Frau, die ich einmal heiraten würde? Fragte auch sie sich, wie ihre Zukunft aussah – wen sie heiraten würde und wo er jetzt war?
Ich bin hier , dachte ich, friere mir auf dem Dach der Welt den Arsch ab und denke an dich ...
Einige Zeit später versuchte Javier zu schlafen, und Liliana wandte sich zu mir.
»Wie geht es deinem Kopf, Nando?«, fragte sie. »Tut er noch weh?«
»Nur ein bisschen«, sagte ich.
»Du solltest dich mehr ausruhen.«
»Ich bin froh, dass du dich entschlossen hast, etwas zu essen«, erklärte ich ihr.
»Ich will meine Kinder wiedersehen«, erwiderte sie, »und wenn ich nichts esse, sterbe ich. Ich tue es für sie.«
»Wie geht es Javier?«
»Er ist immer noch ziemlich krank«, seufzte sie. »Ich bete oft mit ihm. Er ist sicher, dass Gott uns eine Chance geben will.«
»Glaubst du?«, fragte ich. »Glaubst du, Gott wird uns helfen? Ich bin ganz durcheinander. Mir kommen so viele Zweifel.«
»Gott hat uns bisher gerettet«, sagte sie. »Wir müssen Ihm vertrauen.«
»Aber warum hat Gott uns gerettet und die anderen sterben lassen? Meine Mutter, meine Schwester, Panchito, Guido?Wollte Gott sie nicht retten?«
»Man kann Gott und seine Logik nicht verstehen«, erwiderte sie.
»Warum soll ich Ihm dann vertrauen?«, fragte ich. »Was ist mit den vielen Juden, die in den Konzentrationslagern umgekommen sind? Was mit den Unschuldigen, die bei Seuchen, Unruhen oder Naturkatastrophen sterben? Warum wendet Er sich von denen
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