72 Tage in der Hoelle
einer Lampenfassung an der Decke, sodass wir zum ersten Mal nach Sonnenuntergang noch Licht hatten. Wir lasen ein paar Zeitschriften und Comics, die wir aus dem Gepäck gerettet hatten, und mit der Kamera machte ich einige Bilder von Roberto und Tintin. Wenn wir es nicht lebend schafften, so mein Gedanke, würde vielleicht jemand die Kamera finden und den Film entwickeln; dann würde man wissen, dass wir noch eine Zeit lang gelebt hatten. Aus irgendeinem Grund war mir das wichtig.
In dem Gepäckraum war es geradezu luxuriös warm und geräumig – wie angenehm war es, dass ich die Beine ausstrecken und mich in jede gewünschte Position drehen konnte! Sehr schnell wurden wir schläfrig. Roberto schaltete das Licht aus, wir schlossen die Augen und schliefen so gut wie seit langem nicht mehr. Am Morgen waren wir versucht, noch eine Zeit lang in der gemütlichen Unterkunft zu bleiben, aber dann dachten wir daran, wie es den anderen ging und welche Hoffnungen sie in unsere Expedition setzten. Kurz nachdem wir aufgestanden waren, wanderten wir weiter nach Osten.
An diesem Morgen schneite es, aber am späten Vormittag klarte der Himmel auf, die Sonne brannte auf unseren Schultern, und wir gerieten beim Wandern in unserer warmen Kleidung ins Schwitzen. Nach so vielen Wochen bei eisigen Temperaturen waren wir in der plötzlichen Hitze schnell erschöpft, und gegen Mittag blieb uns nichts anderes übrig, als uns im Schatten eines Felsvorsprunges auszuruhen. Wir aßen einen Teil des Fleisches und tauten ein wenig Schnee auf, um etwas zu trinken, aber auch nachdem wir uns erfrischt hatten, verfügte keiner über die Energie zum Weitergehen. Also entschlossen wir uns, an dem Felsen unser Nachtlager aufzuschlagen.
Im Laufe des Nachmittags wurde die Sonne immer stärker, aber nachdem sie untergegangen war, sanken dieTemperaturen. Wir gruben uns im Schnee ein und wickelten uns in unsere Decken, doch als die schneidende Kälte der Nacht uns überfiel, schien das alles nicht den geringsten Schutz zu bieten. Es war meine erste Nacht außerhalb des Flugzeugrumpfes, und ich begriff schon nach wenigen Augenblicken, wie entsetzlich Gustavo, Numa und Maspons in jener langen Nacht an dem offenen Abhang gelitten hatten. Jetzt erging es uns nicht besser. Die Kälte brach so aggressiv über uns herein, dass ich fürchtete, das Blut sei mir in den Adern gefroren. Wir drängten uns dicht zusammen und bibberten in den Armen der anderen. Schließlich entdeckten wir, dass wir am besten ein Sandwich bildeten:Wenn einer zwischen den beiden anderen lag, blieb der in der Mitte einigermaßen warm. Auf diese Weise wechselten wir uns stundenlang in der mittleren Position ab, und obwohl wir nicht schliefen, blieben wir doch bis zum Tagesanbruch am Leben. Als endlich der Morgen graute, erhoben wir uns aus unserer kläglichen Unterkunft und wärmten uns in den ersten Sonnenstrahlen auf. Wir waren wie vor den Kopf gestoßen von dem, was wir durchgemacht hatten, und erstaunt, dass wir noch lebten.
»Noch so eine Nacht halten wir nicht durch«, sagte Roberto. Er starrte nach Osten auf die Berge. Es war, als wären sie im Laufe unserer Wanderung größer geworden und weiter in die Ferne gerückt.
»Was denkst du?«, fragte ich.
»Ich glaube nicht, dass dieses Tal sich irgendwann nach Westen öffnet, erwiderte er. »Wir wandern hier immer weiter in das Gebirge hinein.«
»Vielleicht hast du Recht«, sagte ich, »aber die anderen verlassen sich auf uns. Vielleicht sollten wir noch ein bisschen weitergehen.«
Roberto blickte finster. »Es ist aussichtslos«, schnauzte er zurück, und ich hörte, wie seine Stimme in das verärgerte Falsett überging. »Sind wir für die anderen von Nutzen, wenn wir tot sind?«
»Was sollen wir denn machen?«
»Wir sollten die Batterien aus dem Schwanz holen und zur Fairchild bringen«, sagte er. »Wir können sie auf dem Schlitten hinter uns herziehen.Wenn wir das Funkgerät flottmachen, können wir uns retten, ohne unser Leben aufs Spiel zu setzen.«
Ich hatte zu dem Funkgerät nicht mehr Zutrauen als zu der Idee, nach Osten zu wandern, aber ich sagte mir, dass wir alles versuchen mussten, ganz gleich, wie schwach die Aussicht auf Erfolg war. Also packten wir unsere Sachen und kehrten zu dem hinteren Wrackteil zurück.Wenig später hatten wir die Batterien ausgebaut und nebeneinander auf die Samsonite-Kofferschale gesetzt. Aber als Roberto den Schlitten vorwärtsziehen wollte, versank er tief im Schnee und rührte sich
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