72 Tage in der Hoelle
nicht mehr.
»Verdammt, die sind zu schwer«, sagte er. »Wir können sie unmöglich den Berg hinaufziehen.«
»Tragen können wir sie auch nicht«, fügte ich hinzu.
Roberto schüttelte den Kopf. »Nein. Aber wir können das Funkgerät aus der Fairchild hierher holen«, sagte er. »Wir nehmen Roy mit.Vielleicht kann er herausfinden, wie man es an die Batterien anschließt.«
In meinen Ohren klang das nicht gut. Das Funkgerät war mit Sicherheit so beschädigt, dass es sich nicht reparieren ließ, und ich fürchtete, Robertos Versuche, es in Ordnung zu bringen, würden uns nur ablenken. In Wirklichkeit, das erkannten wir jetzt ganz deutlich, hatten wir nur eine Überlebenschance: Wir mussten die Berge im Westen besteigen.
»Glaubst du wirklich, dass wir es zum Laufen bringen?«, fragte ich.
»Woher soll ich das wissen?«, blaffte Roberto zurück. »Aber einen Versuch ist es wert.«
»Ich fürchte, damit verlieren wir zu viel Zeit.«
»Musst du über alles diskutieren?«, schimpfte er. »Dieses Funkgerät könnte uns das Leben retten.«
»Na gut«, erwiderte ich, »ich helfe dir. Aber wenn es nicht funktioniert, klettern wir. Abgemacht?«
Roberto nickte, und nachdem wir uns zwei weitere angenehme Nächte im Gepäckraum des Flugzeugschwanzes genehmigt hatten, machten wir uns am Nachmittag des 21. November auf den Rückweg. Der Weg von der Absturzstelle bergab durch das Tal war einfach gewesen – so einfach, dass ich mir nicht klargemacht hatte, wie steil der Abhang war. Jetzt gingen wir erst wenige Minuten bergauf, und schon waren wir an der Grenze unserer Ausdauer. An manchen Stellen mussten wir eine Steigung von 45 Grad überwinden, und der Schnee reichte mir häufig bis zu den Hüften. Als ich mich den Berg hinaufkämpfte, gingen meine Kräfte schnell zur Neige. Ich schnappte nach Luft, meine Muskeln schmerzten vor Erschöpfung, und alle paar Schritte musste ich eine Pause von mindestens einer halben Minute einlegen. Wir kamen entsetzlich langsam voran; der Abstieg von der Fairchild zum Schwanz hatte noch nicht einmal zwei Stunden gedauert; in umgekehrter Richtung nahm der Weg die doppelte Zeit in Anspruch.
Am späten Nachmittag waren wir wieder an der Absturzstelle, wo uns die anderen in düsterer Stimmung begrüßten. Sechs Tage waren seit unserem Aufbruch vergangen, und sie hatten gehofft, wir wären mittlerweile in der Zivilisation. Unsere Rückkehr hatte solche Hoffnungen zunichte gemacht, aber das war nicht der einzige Grund für ihre gedrückte Laune; während unserer Abwesenheit war Rafael Echavarren gestorben.
»Am Ende hat er fantasiert«, berichtete Carlitos. »Er hat immer verlangt, sein Vater solle kommen und ihn abholen. In seiner letzten Nacht habe ich ihn dazu gebracht, mit mir zu beten, das hat ihn ein bisschen beruhigt. Ein paar Stunden später hat er nach Luft geschnappt, dann war er tot. Gustavo und ich haben versucht, ihn wiederzubeleben, aber es war zu spät.«
Rafaels Tod war ein schwerer Schlag. Er war für uns zum Inbegriff von Mut und Trotz geworden, und dass er trotz aller Tapferkeit nicht überlebt hatte, war für uns andere ein weiterer Grund zu der Annahme, dass der Berg uns früher oder später alle besiegen würde. Steckte hinter unserem Leiden kein Sinn und Verstand? Der eine kämpfte tapfer und wurde von uns genommen, der andere kämpfte überhaupt nicht und war noch am Leben. Seit der Lawine hatten einige von uns sich an die Überzeugung geklammert, Gott habe neunzehn Leute vor der Katastrophe verschont, weil wir diejenigen waren, die Er als Überlebende ausgewählt hatte. Nach Rafaels Tod fiel es mir noch schwerer zu glauben, dass Gott sich überhaupt um uns kümmerte.
Als wir uns an diesem Abend im Flugzeugrumpf zusammengesetzt hatten, erklärte Roberto, warum wir umgekehrt waren. »Die Route nach Osten ist nicht gut«, sagte er. »Sie führt nur noch tiefer in das Gebirge hinein. Aber wir haben den Flugzeugschwanz und den größten Teil des Gepäcks gefunden. Wir haben für alle warme Kleidung mitgebracht. Und eine Menge Zigaretten. Aber am besten ist, dass wir die Batterien gefunden haben.«
Als Roberto erklärte, wie er das Funkgerät reparieren wollte, hörten die anderen schweigend zu. Es war den Versuch wert, darin waren sich alle einig, aber aus ihren Reaktionen sprach keine große Begeisterung. In ihrem Blick lag jetzt etwas Neues, eine Art erschöpftes Abfinden. Manche starrten trüb ins Leere, wie ich es auf Fotos der Überlebenden von
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