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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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nur einen Weg gab, um von hier wegzukommen, und der führte über die Abhänge der furchterregenden Gipfel im Westen. Dennoch leistete ich keinen Widerstand gegen die Entscheidung der anderen, es über die östliche Route zu versuchen. Zumindest, so sagte ich mir, wäre die einfachere Wanderung nach Osten eine gute Übung für die schwierigere Expedition, die dann noch bevorstand. Ich glaube, in Wirklichkeit war die Sache einfacher. Ich hatte meine Ängste und den Fluchttrieb, der mich verrückt machte, zu lange unterdrückt und konnte jetzt keinen Augenblick länger an der Absturzstelle bleiben. Der Gedanke, diesen Ort zu verlassen, ganz gleich in welcher Richtung, war einfach unwiderstehlich. Wenn die anderen darauf bestanden, nach Osten zu gehen, würde ich mich ihnen anschließen. Ich hätte alles getan, um irgendwo zu sein, nur nicht hier. Aber tief in meinem Innersten wusste ich, dass diese Wanderung nur ein Vorspiel war, und ich fürchtete, sie könne uns wertvolle Zeit kosten. Wir alle wurden von Stunde zu Stunde schwächer, und bei einigen schwanden die Kräfte offenbar beunruhigend schnell. Einer der Schwächsten war Coche Inciarte. Der langjährige Fan der Old Christians hatte sich immer im Hintergrund gehalten. Er war bekannt dafür, Zigaretten zu schnorren und sich immer mit charmanten Worten den wärmsten Schlafplatz zu sichern; man musste ihn einfach mögen. Coche hatte eine aufgeschlossene, liebenswürdige Art, einen scharfen Verstand und ein unwiderstehliches Lächeln. Mit seiner jovialen Ausstrahlung sorgte er selbst in den düstersten Augenblicken dafür, dass die Stimmung stieg, und mit seinem sanften Humor war er ein guter Puffer für die aggressiveren Charaktere in der Gruppe. Indem er Spannungen auflöste und uns zum Lächeln brachte, trug Coche auf seine Weise dazu bei, dass wir alle am Leben blieben.
    Wie Numa, so gehörte auch Coche zu denen, die sich anfangs geweigert hatten, das von den Leichen abgeschnittene Fleisch zu essen. Ein paar Tage später hatte er es sich anders überlegt, aber der Gedanke, Menschenfleisch zu essen, stieß ihn nach wie vor so ab, dass er nie genügend Nahrung heruntergewürgt hatte, um bei Kräften zu bleiben. Er war erschreckend dünn geworden, und sein Immunsystem war so geschwächt, dass der Organismus sich nicht mehr gegen Infektionen zur Wehr setzen konnte. Deshalb hatten sich einige kleinere Wunden entzündet, sodass sich an seinen spindeldürren Beinen jetzt große, hässliche Geschwüre wölbten.
    »Was meinst du?«, fragte er, während er ein Hosenbein bis zum Knie hochzog und den Unterschenkel kokett hin und her drehte. »Ganz schön dürr, was? Würdest du ein Mädchen mit so mageren Beinen anmachen?« Die entzündeten Stellen mussten ihm große Schmerzen bereiten, und ich wusste, dass er ebenso schwach und verängstigt war wie alle anderen; aber er war Coche und hatte dennoch einen Weg gefunden, um mich zum Lachen zu bringen.
    So schlecht es Coche auch gehen mochte, Roy Harley war anscheinend noch schlimmer dran. Auch ihm war es schwer gefallen, Menschenfleisch zu essen, und seine große, breitschultrige Gestalt hatte schnell an Fett- und Muskelmasse verloren. Jetzt ging er gebeugt und unsicher, als wären seine Beine nur dünne Stöcke, die von einer blassen, faltigen Haut zusammengehalten wurden. Auch sein geistiger Zustand verschlechterte sich. Bei den Old Christians war er immer ein ruppiger, mutiger Spieler gewesen, jetzt war er jedoch ein reines Nervenbündel und schien ständig an der Grenze zur Hysterie zu stehen: Er sprang bei jedem Geräusch auf, weinte beim geringsten Anlass und hatte das Gesicht stets zu einer Grimasse von Furcht und extremer Verzweiflung verzogen.
    Auch viele der jüngeren Burschen wurden immer schwächer. Das galt insbesondere für Moncho Sabella, bei weitem am schlechtesten ging es aber Arturo und Rafael. Obwohl Rafael seit den ersten Minuten nach dem Absturz entsetzlich gelitten hatte, war ihm nichts von seinem Kampfgeist verloren gegangen. Er war stets mutig und trotzig geblieben, und zu Beginn jedes Tages legte er ein lautstarkes Bekenntnis ab, dass er überleben wolle – eine tapfere Geste, die uns allen Kraft gab. Arturo dagegen war jetzt noch ruhiger und in sich gekehrter als sonst, und als ich mich zu ihm setzte, spürte ich, dass sein Kampf zu Ende ging.
    »Wie fühlst du dich, Arturo?«
    »Mir ist so kalt, Nando«, erwiderte er. »Schmerzen habe ich kaum noch. Ich spüre meine Beine nicht mehr. Und ich bekomme

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