72 Tage in der Hoelle
ausgewachsenen Schneesturm entwickelte, torkelten wir verängstigt und durchgefroren in den Flugzeugrumpf. Während der Wind an dem Flugzeug rüttelte, tauschten Roberto und ich nüchterne Blicke aus. Ohne dass wir ein Wort sagen mussten, war uns eines klar: Hätte der Sturm nur eine oder zwei Stunden später eingesetzt und uns auf dem offenen Abhang erwischt, wären wir jetzt tot oder lägen im Sterben.
Der Schneesturm war einer der schlimmsten, die wir in all den Wochen in den Anden erlebt hatten. Er fesselte uns zwei Tage lang an den Flugzeugrumpf. Während wir abwarteten, dass er vorüberging, machte Roberto sich immer größere Sorgen um Numas Bein. Er hatte jetzt zwei große Geschwüre, jedes fast von den Ausmaßen einer Billardkugel. Als Roberto die Stellen punktierte und die Flüssigkeit abfließen ließ, gelangte er zu der Erkenntnis, dass Numa in diesem Zustand nicht durch das Gebirge wandern konnte.
»Dein Bein sieht schlimmer aus«, sagte Roberto. »Du wirst hierbleiben müssen.«
Zum ersten Mal seit dem Absturz ging mit Numa das Temperament durch. »Mit meinem Bein ist alles in Ordnung«, schrie er. »Ich kann die Schmerzen aushalten!«
»Dein Bein hat Wundbrand«, erwiderte Roberto. »Wenn du mehr essen würdest, wärst du nicht so geschwächt und kämst besser gegen die Infektion an.«
»Ich bleibe nicht hier!«
Roberto sah Numa an und erklärte mit seiner typischen Schroffheit: »Du bist zu schwach. Du wirst uns nur aufhalten. Wir können es uns nicht leisten, dich mitzunehmen.«
Numa wandte sich zu mir. »Nando, bitte, ich schaffe das. Lass mich nicht hier zurück.«
Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Tut mir leid, Numa. Ich bin der gleichen Ansicht wie Roberto. Deinem Bein geht es schlecht. Du musst hierbleiben.« Als die anderen den gleichen Rat gaben, zog Numa sich wütend in sich selbst zurück. Ich wusste, wie gern er mit uns gegangen wäre und wie schwer es ihm fallen würde, uns aufbrechen zu sehen. Ich selbst hätte eine solche Enttäuschung nicht überstanden, das wusste ich genau, und ich hoffte, dass der Rückschlag Numas Lebenswillen nicht zerstören würde.
Schließlich flaute der Schneesturm ab, und am 17. November wachten wir morgens bei klarem, ruhigem Wetter auf. Ohne viel Aufhebens packten Roberto, Tintin und ich unsere Sachen und machten uns erneut bergab auf den Weg, dieses Mal bei strahlendem Sonnenschein und schwachem Wind. Geredet wurde kaum. Ich fiel mit meinen Schritten schnell in einen gleichmä ßigen Rhythmus, und Kilometer um Kilometer hörte ich nichts als das Knirschen meiner Rugbyschuhe im Schnee. Roberto zog den Schlitten und war uns ein Stück voraus. Nachdem wir etwa eineinhalb Stunden gewandert waren, hörte ich ihn rufen. Er stand auf einer hohen Schneewehe. Als wir bei ihm waren und über die Anhöhe hinwegblicken konnten, sahen wir, worauf er gezeigt hatte: Ein paar hundert Meter vor uns lagen dieTrümmer des Flugzeugschwanzes. Wenige Minuten später waren wir dort. Überall waren Koffer verstreut. Wir rissen sie auf, um an die darin verstauten Schätze zu gelangen: Socken, Pullover, warme Hosen. Glücklich rissen wir uns die schmutzigen Fetzen vom Leib und zogen saubere Kleidung an.
Im Schwanz selbst fanden wir weitere Gepäckstücke mit noch mehr Kleidung. Außerdem ein wenig Rum, eine Schachtel mit Schokolade, ein paar Zigaretten und eine kleine Kamera mit eingelegtem Film. Im hinteren Teil der Maschine hatte sich auch die Küche befunden, und dort fanden wir drei kleine Fleischpasteten, die wir sofort verschlangen; ein schimmliges, in Folie eingewickeltes Sandwich hoben wir für später auf.
Über diese unerwartete Beute waren wir so aufgeregt, dass wir darüber fast die Batterien für das Funkgerät vergessen hätten. Nach kurzer Suche fanden wir sie hinter einer Klappe in der Außenhaut des Rumpfes. Sie waren größer, als ich gedacht hatte. Außerdem entdeckten wir in dem Gepäckraum hinter der Küche ein paar leere Coca-Cola-Kisten, die wir ins Freie brachten und als Brennstoff für ein Feuer benutzten. Roberto grillte ein wenig von dem Fleisch, das wir mitgebracht hatten, und wir aßen mit großem Appetit. Von den gefundenen Sandwiches kratzten wir den Schimmel ab, dann verzehrten wir sie ebenfalls. Als die Nacht hereinbrach, breiteten wir Kleidungsstücke aus den Koffern auf dem Boden des Gepäckraumes aus und legten uns schlafen. Mit Kabeln, die Roberto aus den Wänden der Maschine gezogen hatte, verband er die Batterien mit
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