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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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und Zuspruch entgegengebracht habe, und nach jahrelangem Nachdenken ist mir klar, dass ich ihn deshalb so und nicht anders behandelte, weil ich in ihm so vieles von mir selbst wiederfand. Heute weiß ich, dass mir das nervtötende Wimmern in Roys zitternder Stimme so unerträglich erschien, weil es ein so lebhafter, beunruhigender Ausdruck des Entsetzens war, das ich selbst in meinem Inneren empfand, und seine verzerrten Grimassen machten mich nur deshalb verrückt, weil sich darin meine eigene Verzweiflung widerspiegelte. Als Roy aufgab und sich in den Schnee legte, wusste ich, dass er am Ende seines Kampfes angelangt war. Er hatte endlich den Ort gefunden, an dem der Tod ihn holen würde. Während ich daran dachte, wie Roy an dem Abhang lag und langsam im Schnee verschwand, musste ich mich fragen, wie nahe der Augenblick meiner eigenen Kapitulation war.Wo war die Stelle, an der meine Willenskraft und Stärke versagen würden? Wo und wann würde ich den Kampf aufgeben und mich, verängstigt und besiegt wie Roy, in den weichen, behaglichen Schnee legen?
    Hier lag die eigentliche Ursache meiner Wut: Roy zeigte mir meine Zukunft, und in jenem Augenblick hasste ich ihn deshalb.
    Damals auf dem sturmumtosten Berg war für solche Selbsterkenntnisse natürlich keine Zeit. Ich handelte ausschließlich aus einem Instinkt heraus, und als ich mir den schluchzenden Roy im Schnee vorstellte, entlud sich der gesamte Hohn und Spott, den ich während der letzten Wochen für ihn empfunden hatte, in einer mörderischen Wut. Impulsiv schleuderte ich wie ein Verrückter meine Flüche in den tobenden Wind. » Mierda! Carajo! La reconcha de la reputisima madre! La reputa madre que lo recontra mil y una parío! « Ich war außer mir vor Wut, und bevor ich mich versah, rutschte ich die Böschung hinunter bis zu der Stelle, an der Roy gestürzt war. Als ich bei ihm war, versetzte ich ihm einen Tritt in den Brustkorb. Ich stürzte mich auf ihn, rammte ihm das Knie in die Seite. Als ich auf ihm kniete, ballte ich die Faust und verprügelte ihn mit harten Schlägen. Er rollte durch den Schnee und schrie, und ich setzte ihm mit Worten ebenso heftig zu wie mit meinen Fäusten.
    »Du Hurensohn!«, schrie ich. »Du dreckiges Arschloch! Stell dich auf deine beschissenen Füße, du widerlicher Drecksack! Steh auf, sonst bringe ich dich um, das schwöre ich dir, du Idiot!« Nach dem Absturz hatte ich mich vom ersten Augenblick an darum bemüht, mich zusammenzureißen und keine Kraft für Wut- oder Angstausbrüche zu vergeuden. Als ich jetzt über Roy herfiel, spürte ich, wie alle Ängste und das ganze Gift, die sich in der Zeit auf dem Berg in mir angesammelt hatten, aus meiner Seele strömten. Ich trat Roy mit meinen Rugbyschuhen gegen Hüften und Schultern. Ich drückte ihn in den Schnee. Ich warf ihm alle Schimpfwörter an den Kopf, die mir einfielen, und beleidigte seine Mutter mit Ausdrücken, an die ich mich nicht erinnern möchte. Roy weinte und schrie, während ich ihn misshandelte, aber am Ende erhob er sich. Ich schob ihn so heftig vorwärts, dass er fast wieder gestürzt wäre. Unsanft stieß ich ihn immer weiter und zwang ihn Meter um Meter den Abhang hinaufzustolpern.
    Wir kämpften uns durch den Schneesturm. Roy litt entsetzlich unter der Anstrengung, und auch meine eigenen Kräfte ließen rapide nach. Der Sturm war von beängstigender Aggressivität. Wenn ich in der dünnen Luft um Atem rang, nahm der Wind mir im einen Augenblick die Luft, um sie mir im nächsten gewaltsam in die Kehle zu drücken, sodass ich spuckte und keuchte wie ein Ertrinkender. Die Kälte setzte mir zu, und als ich durch den tiefen, schweren Schnee watete, war die Grenze der Erschöpfung überschritten. Nicht lange, dann waren meine Muskeln völlig am Ende, und jeder Schritt erforderte eine gewaltige Willensanstrengung. Ich sorgte dafür, dass Roy vor mir blieb, sodass ich ihn schieben konnte, und wir stiegen Meter um Meter bergauf. Nach ein paar hundert Metern sackte er wiederum nach vorn, und jetzt wusste ich, dass er seine letzten Kräfte verbraucht hatte. Dieses Mal versuchte ich nicht, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Ich griff um seinen Körper und hob ihn aus dem Schnee. Sogar durch die vielen Schichten seiner Kleidung spürte ich, wie dünn und schwach er geworden war, und ich bekam Mitleid mit ihm. »Denk an deine Mutter, Roy«, sagte ich, wobei ich die Lippen auf sein Ohr presste, damit er mich in dem Sturm hören konnte. »Wenn du sie wiedersehen willst,

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