72 Tage in der Hoelle
waren tot, und wir selbst hatten uns so stark verändert, dass wir das Ausmaß des Ganzen erst nach Jahren begreifen würden. Aber trotz allem, was meine Freunde erduldet hatten, hielten sie an bestimmten Prinzipien fest; Freundschaft, Loyalität, Mitgefühl und Ehre waren für sie immer noch von Bedeutung. Die Anden hatten viel getan, um uns zugrunde zu richten, und jeder von uns wusste, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Aber wir hatten uns nicht den primitivsten Überlebensinstinkten unterworfen. Immer noch kämpften wir gemeinsam, als Team. Körperlich wurden wir immer schwächer, aber unsere Menschlichkeit hatte überlebt.Wir hatten nicht zugelassen, dass die Berge uns unsere Seele stahlen.
In der ersten Dezemberwoche bereiteten wir uns ernsthaft auf die Bergbesteigung im Westen vor. Fito und seine Cousins schnitten Fleisch für uns und lagerten es im Schnee, während Antonio, Roberto und ich die Kleidung und Ausrüstung zusammenstellten, die wir für die Wanderung brauchen würden. Über uns hing eine seltsame Mischung aus Aufregung und Bedrücktheit, als wir uns für die letzte Expedition bereit machten. Die früheren Besteigungsversuche und die fehlgeschlagene Expedition nach Osten hatten uns die beängstigende Macht der Anden vor Augen geführt, aber wir hatten dabei auch grundlegende Kenntnisse über das Überleben im Gebirge erworben. Immer noch waren wir entsetzlich schlecht ausgerüstet, doch wir hatten jetzt zumindest eine etwas bessere Vorstellung davon, was uns erwartete. Die erste Herausforderung war die extreme körperliche Beanspruchung durch das Klettern in großer Höhe. Durch unangenehme Erfahrungen hatten wir gelernt, dass die dünne Gebirgsluft schon die kleinste Anstrengung zu einer grausamen Prüfung für Ausdauer und Willenskraft macht. Dagegen konnten wir an sich nichts tun. Es hieß jedoch, wir mussten aufbrechen, bevor wir zu schwach waren, und wir mussten bei der Besteigung ein gemächliches Tempo anschlagen.
Die zweite große Aufgabe bestand darin, uns insbesondere nach Sonnenuntergang vor der Kälte zu schützen. Zu dieser Jahreszeit konnten wir tagsüber mit Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt rechnen, aber nachts war es immer noch so kalt, dass wir ums Leben kommen konnten, und wir wussten, dass wir an den offenen Abhängen keinen Unterschlupf finden würden. Wir mussten uns etwas einfallen lassen, damit wir nachts nicht erfroren, und die Lösung lag in dem Isoliermaterial aus dem Flugzeugschwanz. Es bestand aus kleinen, rechteckigen Stücken, jedes ungefähr so groß wie eine Zeitschrift. Seit unserer Rückkehr von der letzten Expedition hatten wir dieses Material zwischen die Schichten unserer Kleidung gestopft und dabei festgestellt, dass es uns nachts gut vor der Kälte schützte, obwohl es sehr dünn und leicht war. Als wir vor dem Abmarsch unsere Ideen zusammentrugen, kam uns der Gedanke, die Stücke zu einer großen, warmen Flickendecke zusammenzunähen. Dann wurde klar, dass wir die Decke auch zusammenfalten und an den Kanten zusammennähen konnten; auf diese Weise entstand ein warmer Schlafsack, der so groß war, dass das dreiköpfige Expeditionsteam sich darin zur Ruhe legen konnte. Wenn das Isoliermaterial die Wärme von drei Körpern festhielt, konnten wir auch den kältesten Nächten trotzen.
Carlitos übernahm das Nähen. Seine Mutter hatte ihm als Kind beigebracht, wie man mit Nadel und Faden umgeht, und mit dem Nähzeug, das ich im Koffer meiner Mutter gefunden hatte, machte er sich an die Arbeit. Es war ein mühseliges Unterfangen – schließlich mussten alle Nähte intensiver Beanspruchung standhalten. Damit es schneller voranging, zeigte er auch anderen, wie man näht, und abwechselnd machten wir alle mit; viele von uns hatten dafür allerdings zu plumpe Finger. Als beste und schnellste Schneider erwiesen sich neben Carlitos auch Coche, Gustavo und Fito.
Während die Arbeit fortschritt, bereiteten Tintin und ich uns auf die Wanderung vor, Roberto dagegen hatte es nicht eilig, seine Sachen zu packen. Ich machte mir Sorgen, er könne sich die Sache mit der Klettertour anders überlegt haben, und eines Nachmittags, als er sich vor dem Flugzeugrumpf ausruhte, sprach ich ihn darauf an.
»Der Schlafsack ist bald fertig«, sagte ich. »Alles andere steht auch bereit. Wir sollten so bald wie möglich aufbrechen.«
Roberto schüttelte den Kopf. »Es wäre idiotisch, gerade jetzt loszumarschieren, wo sie wieder nach uns suchen«, sagte
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