72 Tage in der Hoelle
er.
»Wir haben eine Abmachung«, erwiderte ich. »Das Funkgerät hat nicht funktioniert, also ist es jetzt an der Zeit, nach Westen zu gehen.«
»Ja, wir gehen nach Westen«, erklärte er, »aber wir sollten ihnen noch etwas Zeit geben.«
»Wie viel Zeit?«
»Sagen wir zehn Tage«, meinte Roberto. »Es ist doch nur vernünftig, ihnen eine Chance zu geben.«
»Sieh mal, Roberto«, antwortete ich, »du weißt doch besser als jeder andere, dass wir nicht mehr so viel Zeit haben. In zehn Tagen ist vielleicht die Hälfte von uns schon tot.«
Roberto warf mir einen feindseligen Blick zu. »Und was ist das denn für eine tolle Idee, Nando?«, schimpfte er. »Loszumarschieren, wenn eine Rettungsmannschaft nach uns sucht?«
»Vergiss die Rettungsmannschaft«, erwiderte ich. »Die suchen nach Leichen. Die haben es nicht eilig, uns zu finden.«
Mit finsterem Blick wandte Roberto sich ab. »Noch ist es nicht so weit«, murmelte er. »Es ist noch zu früh.«
In der Mitte der ersten Dezemberwoche war der Schlafsack fertig. Unsere Ausrüstung war gepackt, das Fleisch für unterwegs war klein geschnitten und in Socken verpackt, und alle wussten, dass der Zeitpunkt des Aufbruchs gekommen war – alle außer Roberto. Er erfand eine verrückte Ausrede nach der anderen, um das Unternehmen hinauszuzögern. Erst beklagte er sich, der Schlafsack sei nicht fest genug, und bestand darauf, ihn zu verstärken. Dann erklärte er, er könne nicht aufbrechen, weil Coche, Roy und die anderen so dringend seine medizinische Versorgung brauchten. Und schließlich behauptete er, er habe sich für die Bergbesteigung noch nicht genügend ausgeruht und müsse noch einige weitere Tage Kräfte sammeln. Fito und seine Cousins versuchten, ihn unter Druck zu setzen, aber Roberto wies ihre Argumente streitlustig zurück. Schließlich beschimpfte er jeden, der ihm Verzögerungstaktik vorwarf, und erklärte lautstark, er werde erst dann aufbrechen, wenn er dazu bereit sei.
Während wir anderen uns immer mehr über seine Halsstarrigkeit ärgerten, wurde Roberto angespannter und aggressiver. Er piesackte die schwächeren Jungen und fing ohne jeden Anlass Streit an. Einmal riss er seinen engen Freund Alvaro Mangino nach einem unbedeutenden Wortgeplänkel an den Haaren und stieß ihn gegen die Wand. Im nächsten Augenblick tat es ihm leid, er entschuldigte sich bei Mangino, und die beiden umarmten sich. Aber ich hatte genug gesehen. Ich ging hinter Roberto her und wartete, bis wir allein waren.
»So kann das nicht weitergehen«, sagte ich. »Du weißt, dass es Zeit zum Aufbruch ist.«
»Ja«, erwiderte Roberto, »wir gehen demnächst, aber erst müssen wir warten, bis das Wetter sich bessert.«
»Ich habe die Nase voll vom Warten«, erklärte ich.
»Ich hab dir doch gesagt, wir gehen, wenn das Wetter besser ist!«, schnauzte er zurück.
Ich gab mir Mühe, ruhig zu bleiben, aber mit seinem aggressiven Ton brachte Roberto bei mir das Fass zum Überlaufen. »Sieh dich doch um!«, schrie ich. »Bald haben wir nichts mehr zu essen! Unsere Freunde liegen im Sterben. Coche hat nachts schon fantasiert. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Roy geht es noch schlechter, der ist nur noch Haut und Knochen. Javier wird immer dünner, und die Jüngeren, Sabella, Mangino, Bobby, sind alle schon sehr schwach. Und sieh uns doch an! Du und ich, wir werden von Stunde zu Stunde dünner. Wir müssen aufbrechen, bevor wir zu schwach sind und nicht mehr stehen können.«
»Jetzt hörst du mir mal zu, Nando«, schimpfte Roberto zurück. »Vorgestern hatten wir ein schlimmes Unwetter, kannst du dich daran noch erinnern? Hätte es uns am Berg erwischt, wären wir jetzt tot.«
»Wir können auch durch eine Lawine sterben oder in eine Gletscherspalte fallen«, gab ich zurück. »Wir können den Halt verlieren und tausend Meter tief auf die Felsen stürzen. Mit solchen Risiken müssen wir leben, Roberto, und warten können wir nicht mehr.«
Roberto sah an mir vorbei und ging über meine Bemerkungen hinweg. Ich erhob mich.
»MeinTermin steht fest, Roberto. Ich gehe am zwölften Dezember morgens los. Wenn du dann nicht so weit bist, mache ich es ohne dich.«
»Du kannst nicht ohne mich gehen, du blöder Idiot.«
»Du hast es gehört«, erwiderte ich, während ich mich entfernte. »Ich breche am zwölften auf. Mit dir oder ohne dich.«
Der 9. Dezember war mein 23. Geburtstag. Als wir in jener Nacht im Flugzeugrumpf lagen, gaben die Jungen mir eine der Zigarren,
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