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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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sehr anstrengend, und wir mussten häufig stehen bleiben, um uns auszuruhen. Ich wusste, dass Roy die Anstrengung zusetzte, und behielt ihn genau im Auge. Immer wieder verlangsamte ich meinen Schritt, damit er nicht zu weit zurückfiel. Nachdem wir ungefähr eine Stunde gegangen waren, wandte ich den Blick während einer Ruhepause zum Himmel.Was ich sah, verblüffte mich: Die Wolken waren gewachsen und hatten sich verdächtig dunkelgrau verfärbt. Sie hingen so tief, dass ich glaubte, sie berühren zu können. Während ich sie noch beobachtete, kamen die Wolken auf uns zu wie eine mörderische Welle. Bevor ich reagieren konnte, schien der Himmel heranzustürzen, und über uns fegte einer jener plötzlichen Schneestürme hinweg, die bei den Andenkennern als »weißer Wind« bekannt sind. Innerhalb von Sekunden herrschte Chaos. Es wurde schlagartig kälter. Der Wind schob und zerrte so heftig an mir, dass ich vorwärts und rückwärts schwanken musste, um nicht umzufallen. In dicken Spiralen wirbelte der Schnee um mich herum, stach mir ins Gesicht und raubte mir die Orientierung. Ich blinzelte in den Schnee, aber die Sichtweite lag praktisch bei Null, und von den anderen war keine Spur zu sehen. Vorübergehend geriet ich in Panik. »In welche Richtung geht es bergauf?«, fragte ich mich. »Wohin muss ich gehen?«
    Dann hörte ich Robertos Stimme. Sie klang in dem Sturm schwach und weit entfernt.
    »Nando! Hörst du mich?«
    »Roberto! Ich bin hier!«
    Ich sah mich um. Roy war verschwunden.
    »Roy! Wo bist du?«
    Keine Antwort. Etwa zehn Meter hinter mir sah ich undeutlich einen grauen Haufen im Schnee. Roy war gestürzt.
    »Roy«, brüllte ich. »Los, komm!«
    Er bewegte sich nicht. Ich stolperte zu ihm hinunter. Er lag zusammengekauert im Schnee, hatte die Knie bis an die Brust gezogen und die Arme um den Körper geschlungen.
    »Beweg deinen Arsch!«, schrie ich. »Wenn wir uns nicht bewegen, bringt der Sturm uns um!«
    »Ich kann nicht«, jammerte Roy. »Ich kann keinen Schritt mehr gehen!«
    »Los, du Arschloch«, brüllte ich. »Sonst gehen wir hier vor die Hunde!«
    Roy blickte zu mir auf, und sein Gesicht verzog sich zu einer ängstlichen Grimasse. »Nein, bitte«, schluchzte er. »Ich kann nicht. Lasst mich einfach hier.«
    Der Sturm nahm von Sekunde zu Sekunde an Stärke zu, und als ich über Roy stand, pfiff der Wind mit solcher Macht, dass ich den Eindruck hatte, er werde mir gleich die Füße unter dem Körper wegziehen.Wir saßen jetzt in einem »Whiteout« fest. Ich hatte völlig die Orientierung verloren und konnte nur dann hoffen, wieder zum Flugzeugrumpf zu gelangen, wenn ich Robertos und Tintins Fußspuren folgte. Aber die Abdrücke wurden rasch vom Schnee begraben. Ich wusste, dass sie nicht auf uns warten würden – auch sie mussten um ihr Leben kämpfen -, und mir war auch klar, dass jede Sekunde, die ich bei Roy blieb, mir zum Verhängnis werden konnte. Ich blickte zu ihm hinunter. Er weinte, seine Schultern bebten, und der Schnee hatte ihn bereits zur Hälfte zugedeckt.
    Ich muss ihn allein lassen, sonst sterbe ich , dachte ich. Kann ich das machen? Bringe ich es über mich, ihn hier umkommen zu lassen? Diese Fragen beantwortete ich nicht mit Worten, sondern mit Taten. Ohne einen weiteren Gedanken wandte ich mich ab und folgte den Spuren der anderen den Berg hinauf. Während ich mich gegen den Wind vorwärtskämpfte, stellte ich mir vor, wie Roy im Schnee lag. Ich dachte daran, wie er meinen Schatten im Schnee verschwinden sah. Es würde das Letzte sein, was er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Wie lange wird es dauern, bis er das Bewusstsein verliert?, fragte ich mich. Wie lange wird er leiden? Ich war jetzt vielleicht fünfzehn Meter von ihm entfernt und konnte das Bild nicht aus meinem Kopf verbannen: zusammengesunken im Schnee, so hilflos, so Mitleid erregend, so besiegt . Eine Welle der Verachtung für seine Schwäche und Mutlosigkeit stieg in mir hoch, oder zumindest fühlte es sich in diesem Augenblick so an. Im Rückblick sehe ich die Dinge ganz anders. Roy war kein Schwächling. Er hatte mehr gelitten als die meisten anderen und immer wieder die Kraft zum Durchhalten gefunden, aber er war so jung und körperlich derart mitgenommen, dass seine physischen und mentalen Reserven einfach erschöpft waren. Wir waren alle am Ende unserer Kräfte, doch Roy war zu schnell und zu heftig an seine Grenzen gestoßen. Heute habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ihm in den Bergen nicht mehr Geduld

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