72 Tage in der Hoelle
musst du jetzt für sie leiden.« Sein Unterkiefer hing schlaff nach unten, und seine Augen bewegten sich unter den Augenlidern. Er war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, brachte aber noch ein schwaches Nicken zuwege: Er wollte kämpfen. Für mich war seine Tapferkeit in diesem Augenblick ebenso bewundernswert wie alle anderen Akte von Mut und Stärke, die wir in den Bergen miterlebt hatten. Wenn ich heute an Roy denke, dann denke ich immer daran, was er in diesem Augenblick war: ein Held.
Roy lehnte sich an mich, und gemeinsam stiegen wir bergauf. Er bemühte sich mit aller Kraft, doch wenig später kamen wir an eine Stelle, wo es besonders steil aufwärtsging. Ruhig und voller Resignation sah Roy mich an: Er wusste, dass dieser Aufstieg seine Kräfte übersteigen würde. Ich blinzelte in den wirbelnden Schnee und versuchte, die Steigung abzuschätzen; dann griff ich Roy fester um die Taille, und mit meinen geringen verbliebenen Kräften hob ich ihn hoch, sodass nun sein ganzes Gewicht auf meiner Schulter lastete. Dann trug ich ihn mit einzelnen, mühsamen Schritten die Steigung hinauf. Mittlerweile wurde das Tageslicht schwächer, und die Spuren der anderen waren kaum noch zu sehen. Ich stieg aufs Geratewohl weiter, und während ich glaubte, mich der Absturzstelle zu nähern, quälte mich ständig der Gedanke, ich könne die Richtung verloren haben, sodass ich jetzt in die Wildnis ging. Aber als schließlich die Dämmerung hereinbrach, sah ich in dem dichten Schneetreiben schwach die Silhouette der Fairchild. Ich zerrte Roy jetzt mehr hinter mir her, als dass ich ihn trug, aber als das Flugzeug in Sicht kam, spürte ich einen Energieschub, und schließlich waren wir da. Die anderen nahmen mir Roy von den Schultern, und wir stolperten in den Flugzeugrumpf. Roberto und Tintin waren auf dem Fußboden zusammengebrochen, und ich ließ mich schwer neben sie fallen. Ich bibberte unkontrolliert. Meine Muskeln brannten und zitterten in völliger Erschöpfung, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich bin ausgebrannt , dachte ich. Ich werde mich nie mehr erholen. Ich werde nie die Kraft haben, hier herauszukommen . Aber es kümmerte mich nicht, so müde war ich. Ich vergrub mich in dem Gewirr aus Leibern, die sich um mich drängten, sog die Wärme der anderen ein. Zum ersten Mal überfiel mich sofort und für mehrere Stunden ein tiefer Schlaf.
Am nächsten Vormittag ruhte ich mich aus. Seitdem ich wieder zurück war, sah ich unseren Überlebenskampf mit ganz anderen Augen. Mir fiel auf, welche grausigen Dinge zum normalen Bestandteil unseres Lebens geworden waren. Um den Flugzeugrumpf herum waren mehrere Knochenhaufen. Große Körperteile – ein Unterarm, ein Bein von der Hüfte bis zu den Zehen – lagen gleich neben dem Eingang der Fairchild. Oben auf der Maschine waren Fettstreifen zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet. Und zum ersten Mal sah ich in dem Knochenhaufen auch Schädel. Als wir anfingen, Menschenfleisch zu essen, hatten wir uns zunächst an kleine, aus den großen Muskeln herausgeschnittene Stücke gehalten. Aber als die Nahrungsvorräte im Laufe der Zeit dahinschwanden, hatten wir keine andere Wahl, als den Speisezettel auszuweiten. Eine Zeit lang hatten wir Lebern, Nieren und Herzen gegessen, aber mittlerweile war das Fleisch so knapp, dass wir auch Schädel aufschlagen mussten, um an das Gehirn zu gelangen. Während wir weg waren, hatte der Hunger einige Überlebende zum Verzehr von Dingen getrieben, die wir zuvor für ungenießbar gehalten hatten: Lungen, Teile von Händen und Füßen, ja sogar die Blutgerinnsel, die sich in den großen Blutgefäßen am Herzen gebildet hatten. Bei normalem Geisteszustand findet man so etwas wahrscheinlich unbegreiflich und abstoßend, doch der Überlebenstrieb sitzt tief, und wenn der Tod so nahe ist, kann ein Mensch sich an alles gewöhnen. Aber trotz des ungeheuren Hungers und der verzweifelten Bemühungen, die Abhänge nach weiteren Leichen abzusuchen, hatten sie das Versprechen, das sie Javier und mir gegeben hatten, gehalten: Die Leichen meiner Mutter, meiner Schwester und Lilianas, die alle leicht zugänglich gewesen wären, hatte niemand angerührt. Sie lagen nach wie vor unversehrt unter dem Schnee. Ich war tief bewegt bei dem Gedanken, dass ein solches Versprechen meinen Freunden selbst an der Schwelle zum Hungertod noch etwas bedeutete. Die Berge hatten uns so viel genommen und so viel Schlimmes durchmachen lassen. Unsere besten Freunde und geliebte Angehörige
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