72 Tage in der Hoelle
ihrem Tod hatte ich mir keinen einzigen sentimentalen Gedanken gestattet. Aber jetzt durchlebte ich noch einmal den Augenblick, als ich Susy in ihr flaches Grab gelegt und mit dem stiebenden Schnee zugedeckt hatte. Zwei Monate waren seit jenem Tag vergangen, aber immer noch sah ich deutlich ihr Gesicht vor mir, und die weißen Kristalle, die sanft auf ihre Wangen und Brauen fielen. Wenn ich sterbe, wird mein Vater nie erfahren, wie ich sie getröstet und gewärmt habe , dachte ich, und er wird nicht wissen, wie friedlich sie in ihrem weißen Grab ausgesehen hat .
»Nando, bist du so weit?«
Roberto wartete. Hinter ihm lag der Berg, die weißen Abhänge glitzerten in der Morgensonne. Ich dachte daran, dass diese brutalen Gipfel das Einzige waren, was mir den Weg zu meinem Vater versperrte, und dass endlich die Zeit gekommen war, um den langen Heimweg anzutreten, aber diese Gedanken weckten in mir keinen Mut. Ich war einer Panik nahe. Jetzt sammelten sich alle Ängste, die mich gequält hatten, seit ich aus dem Koma erwacht war, und ich zitterte wie ein zum Tode Verurteilter, der die Stufen zum Schafott hinaufsteigt.Wäre ich allein gewesen, hätte ich vielleicht gewimmert wie ein Baby, und der einzige Gedanke in meinem Kopf war das Betteln eines verängstigten Kindes: Ich will nicht gehen . Bisher wollte ich nichts wie Richtung Westen gehen, um Hilfe zu holen. Jetzt jedoch, als es losgehen sollte, wollte ich unbedingt bei meinen Freunden bleiben. Ich wollte mich heute Abend mit ihnen in den Flugzeugrumpf kuscheln, wollte mit ihnen über zu Hause und unsere Familien sprechen, wollte mich von ihren Gebeten und der Wärme ihrer Körper trösten lassen. Die Absturzstelle war ein schrecklicher Ort, von Urin durchtränkt, voll vom Geruch des Todes, übersät mit menschlichen Knochen- und Knorpelstücken, und doch kam sie mir plötzlich sicher, warm und vertraut vor. Ich wollte hierbleiben. Wie gerne wäre ich geblieben!
»Nando«, sagte Roberto. »Wir müssen los.«
Ich warf noch einmal einen Blick auf die Gräber, dann wandte ich mich zu Carlitos und sagte: »Wenn das Essen knapp wird, sollt ihr auch meine Mutter und Susy ausgraben.«
Einen Augenblick lang war Carlitos sprachlos, dann nickte er. »Nur im äußersten Notfall«, erwiderte er leise.
Wieder rief Roberto. »Nando?«
»Ich bin so weit«, sagte ich. Wir winkten ein letztes Mal, dann begannen wir mit dem Aufstieg.
Während wir dem sanft ansteigenden Gletscher in Richtung der unteren Berghänge folgten, hatte keiner von uns viel zu sagen. Wir glaubten zu wissen, was vor uns lag und wie gefährlich der Berg sein konnte.Wir hatten gelernt, dass schon das kleinste Unwetter uns umbringen konnte, wenn es uns in offenem Gelände erwischte.Wir wussten, dass der stark überhängende Schnee an den höchsten Bergkämmen instabil war und dass schon eine kleine Lawine uns den Abhang hinunterfegen würde wie ein Besen, mit dem man Brotkrümel beseitigt. Uns war klar, dass unter der dünnen Kruste aus gefrorenem Schnee tiefe Gletscherspalten lagen und dass von den verwitterten Felsvorsprüngen oben am Berg immer wieder Brocken von der Größe eines Fernsehgeräts herunterfielen. Aber wir hatten keine Ahnung vom Bergsteigen, und diese Unkenntnis konnte uns das Leben kosten.
So wussten wir beispielsweise nicht, dass der Höhenmesser der Fairchild einen falschen Wert anzeigte: Anders als wir annahmen, befand sich die Absturzstelle nicht in 2100 Metern Höhe, sondern sie lag fast 3600 Meter hoch. Ebenso wenig war uns klar, dass wir im Begriff standen, einen der höchsten Berge der Anden zu besteigen, der fast 5100 Meter in die Höhe ragt und mit seinen steilen, schwierigen Steigungen auch für geübte Bergsteiger eine Herausforderung darstellt. Erfahrene Alpinisten hätten sich ohne ein ganzes Arsenal mit Spezialausrüstung nicht einmal in seine Nähe begeben; sie hätten Stahlkletterhaken, Eisschrauben, Seile und andere lebenswichtige Gegenstände mitgenommen, um sich damit sicher an den Steilhängen zu verankern. Außerdem hätten sie Eispickel, wasserdichte Zelte und warme Stiefel mit Steigeisen dabeigehabt, um an den steilsten, vereisten Hängen sicher zu stehen. Natürlich wären sie körperlich in Topform gewesen, hätten den Aufstieg zu einem selbst gewählten Zeitpunkt in Angriff genommen und sorgfältig die sicherste Route zum Gipfel geplant.Wir drei dagegen kletterten in Straßenkleidung und mit den ungeschlachten Hilfsmitteln, die wir aus dem geretteten
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