72 Tage in der Hoelle
Fachleute empfehlen, pro Tag nicht mehr als 300 Meter Höhenunterschied zu überwinden, denn bei diesem Tempo hat der Organismus genügend Zeit, sich an die immer dünnere Luft zu gewöhnen. Wir waren an einem einzigen Vormittag doppelt so hoch gestiegen und machten alles noch schlimmer, weil wir weiterkletterten, obwohl wir dringend Zeit zum Ausruhen gebraucht hätten.
Mein nach Sauerstoff hungernder Organismus versuchte verzweifelt, mit der dünnen Luft zurechtzukommen. Der Puls schoss in die Höhe, und das Blut in den Adern wurde immer dicker – auf diese Weise spart der Körper mit dem Sauerstoff im Blut und transportiert ihn schneller zu den lebenswichtigen Organen und Geweben. Meine Atemfrequenz stieg bis an die Grenze des Hyperventilierens, und da ich beim Ausatmen so viel Flüssigkeit verlor, wurde der Wassermangel mit jedem Atemzug stärker. Um sich in großer Höhe mit den erforderlichen großen Wassermengen zu versorgen, führen Profibergsteiger einen tragbaren Benzinkocher mit, mit dem sie Schnee in einem Topf schmelzen können, und nehmen jeden Tag viele Liter Flüssigkeit zu sich. Unsere einzige Flüssigkeitsversorgung war hier und da eine Hand voll Schnee, den wir schluckten, oder das Wasser aus der Glasflasche, die wir im Rucksack dabeihatten. Es nützte kaum etwas. Durch den Flüssigkeitsmangel ließen unsere Kräfte schnell nach, und wir litten beim Klettern ständigen, brennenden Durst.
Nach fünf oder sechs Stunden angestrengter Kletterei waren wir vermutlich etwa 750 Meter aufgestiegen, aber trotz aller Mühen schien der Gipfel nicht näher gekommen zu sein. Als ich die gewaltige Entfernung zur Spitze abschätzte, begann ich zu verzagen und mir wurde klar, dass ich dem höchsten Punkt mit jedem gequälten Schritt nur um 40 Zentimeter näher kam. Mit brutaler Deutlichkeit erkannte ich,dass wir uns eine übermenschliche Aufgabe gestellt hatten. Von Angst und einem Gefühl der Nutzlosigkeit überwältigt, spürte ich den Wunsch, auf die Knie zu sinken und einfach hierzubleiben. Aber dann hörte ich wieder die ruhige Stimme in meinem Kopf, jene Stimme, die mich schon in so vielen Augenblicken der Krise aufgerichtet hatte. »Du verzettelst dich in den Entfernungen«, sagte sie. »Stutz den Berg auf die richtige Größe zurück.« Da wusste ich, was ich zu tun hatte. Über mir ragte ein großer Felsen aus dem Abhang. Ich entschloss mich, nicht mehr an den Gipfel zu denken, sondern diesen Felsen zu meinem einzigen Ziel zu machen. Ich schleppte mich zu ihm hin, aber wie der Gipfel schien er zurückzuweichen, je weiter ich stieg. Ich wusste bereits, dass der Berg mir mit seinen gewaltigen Dimensionen einen Streich spielte. Nichts an diesen leeren Steilhängen – kein Haus, kein Mensch, kein Baum – konnte mir einen Vergleichsmaßstab liefern, und deshalb konnte ein Felsbrocken, der zehn Meter breit und hundert Meter entfernt zu sein schien, in Wirklichkeit zehnmal größer und zehnmal weiter weg sein. Dennoch stieg ich unermüdlich auf den Felsen zu. Als ich ihn schließlich erreicht hatte, setzte ich mir ein neues Ziel und fing wieder von vorne an.
Auf diese Weise kletterte ich stundenlang weiter: Immer konzentrierte ich mich ganz auf einen Zielpunkt – einen Felsen, einen Schatten, eine auffällige Welle im Schnee -, sodass die Entfernung zu diesem Ziel das Einzige war, was mich auf der Welt noch interessierte. Die einzigen Geräusche waren mein eigener schwerer Atem und das Knirschen des Schnees unter meinen Schuhen. Schon bald setzte ich ganz automatisch einen Fuß vor den anderen und verfiel in eine Art Trance. Irgendwo in meinem Inneren sehnte ich mich immer noch nach meinem Vater, litt ich immer noch an Erschöpfung, machte ich mir immer noch Sorgen, unser Vorhaben könne scheitern, aber solche Gedanken erschienen mir jetzt wie unterdrückt und zweitrangig, wie ein Radio, das im Nachbarzimmer spielt. Schritt- und schieben; Schritt- und schieben . Nichts anderes war noch wichtig. Manchmal nahm ich mir vor, beim nächsten Zielpunkt auszuruhen, aber dieses Versprechen löste ich nie ein. Die Zeit verging, die Entfernungen schrumpften, der Schnee schien unter meinen Füßen hinwegzugleiten. Ich war eine Lokomotive, die den Abhang hinaufdampfte. Ich schlafwandelte in Zeitlupe. Dieses Tempo behielt ich bei, bis ich Roberto und Tintin weit voraus war und sie mich rufen mussten, damit ich stehen blieb. An einem Felsvorsprung, der eine ebene Fläche zum Ausruhen bot, wartete ich auf sie. Wir
Weitere Kostenlose Bücher