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72 Tage in der Hoelle

72 Tage in der Hoelle

Titel: 72 Tage in der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nando Parrado , Vince Rause , Sebastian Vogel
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schon jetzt am Rande unserer Kräfte, dabei hatte die eigentliche Klettertour noch gar nicht begonnen.
     
     
    Die Steigung am Berg nahm immer mehr zu, und schon bald erreichten wir derart steile und windumtoste Abhänge, dass sich tiefe Schneeverwehungen dort nicht halten konnten. Erleichtert schnallten wir die Schneeschuhe ab, banden sie uns wieder auf den Rücken und stiegen weiter bergan. Am späten Vormittag waren wir bereits in eine schwindelerregende Höhe vorgedrungen. Die Welt um uns bestand mehr aus blauer Luft und Sonnenschein denn aus Felsen und Schnee.Wir waren buchstäblich in den Himmel aufgestiegen. Die Höhe und die offene Weite der gewaltigen Berghänge ließen mich in einem Gefühl des traumhaften Unglaubens taumeln. Hinter mir fiel der Berg so steil ab, dass ich von Roberto und Tintin unter mir nur die Köpfe und Schultern sah, die sich vor einem 600 Meter tiefen, leeren Himmel abhoben. Der Hang war so steil wie die Leiter eines Dachdeckers, aber es war eine Leiter, auf der man bis zum Mond klettern konnte! Die Höhe machte mich schwindlig im Kopf und ließ prickelnde Krämpfe durch Sehnen und Rückgrat laufen. Mich umzusehen war, als wenn ich auf der Dachrinne eines Wolkenkratzers Pirouetten drehte.
    An solchen Steilhängen, wo man leicht abstürzen kann und kaum Halt zu finden ist, würden Profibergsteiger mit Seilen arbeiten, die sie an ins Gestein oder Eis getriebenen Stahlankern befestigen, und sie würden Steigeisen anlegen. Das alles hatten wir nicht, wir waren ausschließlich auf die nachlassende Kraft unserer Arme, Beine, Fingerspitzen und halb erfrorenen Zehen angewiesen – nur sie verhinderte, dass wir in die blaue Leere hinter uns stürzten. Natürlich hatte ich entsetzliche Angst, aber ich konnte auch die wilde Schönheit um mich herum nicht übersehen – den makellos blauen Himmel, die Berge voller Raureif, die glitzernde Landschaft mit ihrem tiefen, jungfräulichen Schnee. Es war alles so gewaltig, so vollkommen, so still. Und doch verbarg sich hinter der Schönheit etwas Beunruhigendes, etwas Urtümliches, Feindseliges, Übermächtiges. Ich blickte hinunter zur Absturzstelle. Aus dieser Höhe war sie nur ein ausgefranster Schmutzfleck auf dem unberührten Schnee. Ich erkannte, wie deplatziert sie wirkte, wie grundlegend falsch . Alles an uns hatte hier etwas Falsches: unsere gewaltsame, lärmende Ankunft, unser penetrantes Leiden, der Lärm und das Durcheinander unseres gespenstischen Überlebenskampfes. Nichts davon passte hierher. Leben an sich passte nicht hierher. Es verletzte jene vollkommene Erhabenheit, die hier seit Jahrmillionen herrschte. Ich hatte sie von Anfang an gespürt, seit ich diesen Ort zum ersten Mal gesehen hatte: Wir hatten ein uraltes Gleichgewicht gestört, und dieses Gleichgewicht musste wiederhergestellt werden. Es war hier um mich herum in der Stille und Kälte. Irgendetwas wollte die vollkommene Stille wiederhaben; irgendetwas in den Bergen wollte, dass wir still waren.
     
     
    Gegen Mittag hatten wir von der Absturzstelle aus bereits etwa 600 Meter an Höhe gewonnen und befanden uns vermutlich rund 4200 Meter über dem Meeresspiegel. Zentimeterweise bewegte ich mich vorwärts, während sich ein heimtückischer Kopfschmerz um meinen Schädel legte wie ein eiserner Ring. Meine Finger fühlten sich dick und schwerfällig an, und meine Gliedmaßen wurden von der Müdigkeit schwer. Schon bei der geringsten Anstrengung – wenn ich den Kopf hob oder mich umdrehte, um mit Roberto zu sprechen – musste ich nach Luft schnappen, als wäre ich einen Kilometer gelaufen; ganz gleich, wie tief ich einatmete, ich konnte die Lunge nicht füllen. Es war ein Gefühl, als würde ich die Luft durch ein Stück Filz einsaugen.
    Was ich damals nicht wusste: Ich litt an den Auswirkungen der großen Höhe. Die physiologische Belastung durch das Klettern in sauerstoffarmer Luft ist für Bergsteiger eine der größten Gefahren überhaupt. Die Höhenkrankheit, die in der Regel in über 2500 Metern einsetzt, kann einen Menschen auf unterschiedliche Weise außer Gefecht setzen, unter anderem mit Kopfschmerzen, unüberwindlicher Müdigkeit und Schwindelgefühlen. Ungefähr ab 3600 Metern können Gehirn- und Lungenödeme hinzukommen, die dann unter Umständen zu bleibenden Gehirnschäden und einem schnellen Tod führen. Einer schwachen bis mäßigen Höhenkrankheit kann man sich in großer Höhe kaum entziehen, aber durch schnelles Bergaufgehen verschlimmert sich der Zustand.

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