72 Tage in der Hoelle
Realität erschien mir verschwommen und traumartig; ich hatte das Gefühl, als sähe ich mir selbst aus der Entfernung zu. Die anderen standen schweigend daneben – sie wussten einfach nicht, was sie sagen sollten. Zuvor, als wir nach Osten aufgebrochen waren, hatte ich sie schon einmal zurückgelassen, aber dass die Expedition damals nur eine Vorübung war, hatte ich von Anfang an gewusst. An diesem Morgen jedoch spürte ich das schwere Gewicht des Endgültigen, und den gleichen Eindruck hatten auch die anderen. Nach so vielen Wochen des engen Gemeinschaftslebens und der gemeinsamen Kämpfe lag plötzlich eine Distanz zwischen uns. Meine Abreise hatte bereits begonnen.
Ich griff nach dem Aluminiumpfosten, der mir als Wanderstock dienen sollte, und nahm meinen Rucksack aus dem Gepäckfach über mir. Er enthielt neben Fleischrationen alle möglichen Dinge, die mir nach meiner Vermutung von Nutzen sein konnten: Stoffstreifen, die ich mir um die Hände wickeln konnte, um sie zu wärmen, ein Lippenstift zum Schutz meiner blasigen Lippen vor Wind und Sonne. Ich hatte alles eingepackt, bevor ich zu Bett gegangen war. Mein Abmarsch sollte so schnell und unkompliziert wie möglich ablaufen; Verzögerungen würden mir nur Zeit lassen, die Nerven zu verlieren.
Roberto war ebenfalls fertig angezogen. Wir nickten uns schweigend zu, dann schob ich mir Panchitos Armbanduhr über das Handgelenk und ging hinter ihm nach draußen. Die Luft war kalt und schneidend, aber die Temperatur lag deutlich über dem Gefrierpunkt. Es waren ideale Verhältnisse zum Bergsteigen: leichter Wind und strahlend blauer Himmel.
»Beeilen wir uns«, sagte ich. »So ein Wetter müssen wir ausnutzen.«
Fito und seine Cousins brachten uns ein wenig Fleisch zum Frühstück. Wir aßen schnell. Geredet wurde wenig. Als es Zeit zum Aufbruch war, standen wir auf und verabschiedeten uns. Carlitos kam auf mich zu, und wir umarmten uns. Er lächelte glücklich, und in seinem Gesicht stand energische Zuversicht. »Ihr schafft das«, sagte er. »Gott wird euch behüten!« Ich sah die unbändige Hoffnung in seinem Blick. Er war mager und schwach, seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und die Haut spannte sich straff über die Gesichtsknochen. Mir brach es fast das Herz, dass seine ganze Hoffnung auf mir ruhte, dass die hoffnungslose Wanderung, die heute begann, seine einzige Überlebenschance war. Ich wollte ihn schütteln, meinen Tränen freien Lauf lassen und ihn anschreien: Was zum Teufel mache ich eigentlich, Carlitos? Ich habe solche Angst! Ich will nicht sterben!
Aber ich wusste es genau:Wenn ich solche Gefühle in mir hochkommen ließ, würde mich der Mut verlassen. Also gab ich ihm nur einen der winzigen roten Schuhe, die meine Mutter in Mendoza für meinen Neffen gekauft hatte. Sie waren für mich etwas ganz Besonderes: Meine Mutter hatte sie mit so viel Liebe für ihren Enkel ausgesucht und war im Flugzeug so sorgsam damit umgegangen. »Behalte den hier«, sagte ich. »Ich behalte den anderen. Wenn ich zurückkomme, haben wir wieder ein Paar.«
Auch die anderen verabschiedeten sich mit Umarmungen und stillen, ermutigenden Blicken. In ihren Gesichtern stand so viel Hoffnung und so viel Angst, dass ich ihnen kaum in die Augen sehen konnte. Immerhin war ich derjenige gewesen, der die Expedition geplant hatte. Ich hatte besonders nachdrücklich darauf bestanden, dass es möglich war, zu Fuß nach Chile zu gelangen. Ich wusste, dass die anderen mein Verhalten für zuversichtlich und optimistisch hielten, und vielleicht bezogen sie daraus ihre Hoffnung. Aber was sie für Optimismus hielten, hatte in Wirklichkeit nicht die entfernteste Ähnlichkeit damit. Es war Panik. Es war Entsetzen. Mich trieb derselbe Drang nach Westen, der einen Menschen auch dazu treibt, vom Dach eines brennenden Gebäudes zu springen. Ich hatte mich immer gefragt, was in solchen Augenblicken in einem Menschen vorgeht, wenn man auf der Dachkante sitzt, vor den Flammen zurückweicht und in einem Sekundenbruchteil die eine Form des Todes für sinnvoller hält als die andere. Wie trifft unser Geist eine solche Entscheidung? Welche Logik sagt uns, dass es an der Zeit ist, den Schritt in die Luft zu tun? An diesem Morgen kannte ich die Antwort. Ich lächelte Carlitos an, dann wandte ich mich ab, bevor die anderen die Furcht in meinen Augen sahen. Mein Blick fiel auf den weichen Schneehügel an der Stelle, wo meine Mutter und meine Schwester bestattet waren. In den Wochen seit
Weitere Kostenlose Bücher