72 Tage in der Hoelle
Material des Flugzeugs hergestellt hatten.Körperlich waren wir bereits durch monatelangeAnstrengung, Hunger und Wetter geschwächt, und wir besaßen so gut wie keine Erfahrungen, die uns auf diese Aufgabe vorbereitet hätten. Uruguay ist ein warmes, flaches Land. Keiner von uns hatte zuvor schon einmal ein richtiges Gebirge gesehen. Roberto und Tintin hatten bis zu dem Absturz noch nicht einmal Schnee zu Gesicht bekommen. Hätten wir eine Ahnung vom Bergsteigen gehabt, so wäre uns klar gewesen, dass wir bereits zum Tode verurteilt waren. Aber glücklicherweise wussten wir von alldem nichts, und diese Unwissenheit bot uns die einzige Chance.
Zuerst mussten wir einen Weg für den Anstieg auswählen. Erfahrene Bergsteiger hätten sehr schnell erkannt, dass sich ein Bergkamm vom Gipfel herunterschlängelte und ungefähr eineinhalb Kilometer südlich von der Absturzstelle auf den Gletscher traf. Hätten wir besser Bescheid gewusst, wären wir zu dieser Stelle gewandert und auf dem langen, schmalen Grat aufgestiegen. Dort hätten wir mit den Füßen besseren Halt gefunden, die Steigung wäre geringer gewesen, und wir hätten einen ungefährlicheren, schnelleren Weg zum Gipfel gefunden. Aber uns fiel der Grat nicht einmal auf. Seit Tagen hatte ich meinen Blick auf die Stelle gerichtet, wo die Sonne hinter den Bergkämmen unterging, und in der Vorstellung, dass der kürzeste Weg auch der beste ist, malten wir uns von dieser Stelle aus eine Route geradewegs nach Westen aus. Es war ein dilettantischer Fehler, und er zwang uns, den Berg über die steilsten und gefährlichsten Stellen zu besteigen.
Der Anfang jedoch war vielversprechend. An den unteren Abhängen des Berges war der Schnee fest und ziemlich eben, und die Stollen meiner Rugbyschuhe krallten sich gut in der gefrorenen Kruste fest.Von einem heftigen Adrenalinschub vorangetrieben, wanderte ich schnell bergauf, und nach kürzester Zeit war ich den anderen um fünfzig Meter voraus. Aber schon bald musste ich mein Tempo verlangsamen. Der Abhang war steiler geworden, und mit jedem Schritt schien die Steigung weiter zuzunehmen; ich fühlte mich wie auf einem Laufband, das immer schwerer läuft. Die Anstrengung ließ mich in der dünnen Luft keuchen, und immer wenn ich ein paar Meter vorangekommen war, musste ich mich mit auf die Knie gestützten Händen ausruhen.
Schon bald schien die Sonne so stark, dass uns beim Steigen warm wurde, und wenig später gab die feste Oberfläche unter meinen Füßen nach. Jetzt brach ich bei jedem Schritt durch die immer dünnere Kruste, und dann sank ich bis zu den Knien in den weichen, tiefen Schnee. Von nun an erforderte jeder Schritt eine gewaltige Anstrengung. Ich musste das Knie fast bis zur Brust heben, um den Schuh aus dem Schnee zu ziehen. Dann setzte ich diesen Fuß nach vorn, verlagerte das Körpergewicht darauf und brach wiederum durch das Eis. In der dünnen Luft musste ich nach jedem Schritt ausruhen. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass die anderen genauso viel Mühe hatten. Ich blickte nach oben zur Sonne, und mir wurde klar, dass wir am Morgen zu lange mit dem Aufbruch gewartet hatten. Der gesunde Menschenverstand hatte uns gesagt, dass wir besser bei Tageslicht klettern sollten, also hatten wir gewartet, bis die Sonne aufgegangen war. Dagegen wissen erfahrene Bergsteiger, dass die Stunden vor Tagesanbruch sich am besten zum Klettern eignen, weil die Sonne später alle Abhänge in Matsch verwandelt. Wiederum forderte der Berg seinen Tribut für einen dilettantischen Fehler. Ich fragte mich, welche Schnitzer wir noch begehen würden und wie oft wir sie überleben konnten.
Schließlich war die Eiskruste völlig getaut, und wir kämpften uns durch Schneewehen, die mir manchmal bis zu den Hüften reichten. »Versuchen wir es mal mit den Schneeschuhen!«, rief ich. Die anderen nickten. Wenige Augenblicke später hatten wir Fitos provisorische Schneeschuhe vom Rücken genommen und an die Füße geschnallt. Anfangs funktionierten sie gut, und wir konnten bergauf gehen, ohne im Schnee einzusinken. Aber mit den großen, sperrigen Sitzkissen mussten wir die Beine beim Gehen anwinkeln und die Füße in einem unnatürlichen Halbkreis bewegen, damit die dicken Polster nicht zusammenstießen. Noch schlimmer wurde das Ganze, weil sich die Polsterung und ihre Füllung sehr schnell mit geschmolzenem Schnee vollsogen. In meinem erschöpften Zustand kam es mir vor, als wäre an jedem meiner Schuhe ein Gullydeckel befestigt.Wir waren
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