73 - Der Dukatenhof
nichts verstand, so konnte sie das ihr bisher fremde Fazit zunächst gar nicht begreifen. Sie sagte kein Wort. Aber sie blickte so erschrocken zu dem Lehrer auf, daß dieser seine Arme auseinander nahm. Da glitt sie langsam auf den Boden nieder, als ob sie die Kraft, stehen zu bleiben, verloren habe. Das war da beim Rettichbirnenbaum, genau an der Stelle, wo die Ziege das Fräulein Rosalia niedergeworfen hatte. Wie sonderbar das ist!
„Herzle, mein liebes, liebes Herzle, warum erschrickst du so?“ fragte der Lehrer.
Ihr Gesichtchen war wie mit Blut übergossen; aber sie antwortete nicht. Es wäre ihr unmöglich gewesen, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Und nun geschah das gerade Gegenteil von dem, was Fräulein Rosalia gesagt hatte, nämlich nicht das Herzle hob den Herrn Lehrer auf, sondern er sie. Er nahm sie wieder in die Arme und drückte sie fest an sich.
„Weißt du denn wirklich nicht“, fragte er, „daß wir zusammengehören? Daß wir eine einzige Menschenseele sind? Herzle, Herzle, diese Unwissenheit müssen wir der Mutter klagen. Komm!“
Da geschah gleich zweierlei auf einmal. Nämlich die Sonne nahm ihren Federwölkchenschleier ab und lachte der ‚einzigen Menschenseele‘ fröhlich in die glückstrahlenden Augen. Und das Karlinchen war nur ein kleines Stückchen bis über das Brückle hinausgeschossen und dann stehengeblieben, ganz ohne jeden Kugelfang. Die Spitzen hingen ihr noch fest am Hals. Jetzt kehrte sie zurück. Sie sah ihre beiden Lieblinge Arm in Arm. Da dachte sie an ihren Lieblingsdichter: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, beim Hermann und Herzle die dritte!“ Sie schob sich zärtlich zwischen sie hinein, und kam als Mittelste mit ihnen bei der Mutter an.
Da nun die Sache in vollster Ordnung war, legte die Sonne den Schleier wieder vor. Man weiß ja, daß sie nicht so neugierig ist wie andere Leute, zum Beispiel abends der Mond. Der stand heute schon am Himmel, als es noch gar nicht dunkel geworden war. Da sah er am Häusle drei Menschen sitzen, welche trotz der Größe ihres Glücks sehr ernst gestimmt waren. Denn sie sprachen nicht von sich selbst, sondern von dem Musterwirt.
„Die Beichte war grad vorüber, da hörte ich die Anna an der vorderen Tür“, sagte der Lehrer. „Der Wirt wollte sie zunächst nicht hereinlassen, öffnete ihr aber doch. Was sie für einen unbegreiflichen Einfluß hatte! In zehn Minuten war er wieder ganz vertauscht. Er klopfte an meine Tür und forderte mich auf, herauszukommen. Ich bin noch blasser gewesen als die Leiche dort im Bett; so sagte Anna. Ich hätte es keinen Augenblick in der Stube aushalten können. Mir war, als ob ich lauter Geister um mich sähe, mit Fratzen anstatt richtiger Gesichter. Darum gingen wir fort. Unten gab er den Befehl, den Arzt aus der Stadt zu holen, der die Rosalia untersuchen und den Totenschein ausstellen solle. Die Anna durfte heim. Mich aber nahm er mit hinaus in den Busch, wo wir das Messer fanden. Er steckte es ein. Was wir dabei gesprochen haben, das werdet ihr erfahren, aber nicht jetzt, und nicht auf einmal, sondern nach und nach. Ich habe nicht nur mit ‚ihm‘, sondern auch mit ‚ihm‘ geredet. Das klingt zwar irr, ist aber richtig. Denn er verwandelte sich im Laufe des Gesprächs. Was ich während dieser Verwandlung beobachtete und was ich dann mit vorher verglichen habe, das war fast zuviel für mich. Es wird lange dauern, ehe es in mir zur Klarheit und zur Ruhe gekommen ist. Dann aber gehe ich meinen richtigen Weg und frage keinen Menschen, ob er mich für verrückt hält oder nicht. Wer Larve bleiben will, der mag es bleiben; ich aber nehme mir die Maske vom Gesicht. Ich laufe dann zwar Gefahr, daß die Larven gerade die Wahrheit dieses Gesichtes für Lüge halten und mich verhöhnen werden, doch ändert das nicht das geringste an meinem Entschluß. Der Hohn trifft sie selbst, nicht mich!“
Er war vom Tisch aufgestanden, um zu gehen.
„Heute war ein großer Tag für mich“, sagte er noch. „Er hat mir wahrscheinlich viel, sehr viel genommen. Ich fühle, das Alte bricht in mir zusammen, um neu, vollständig neu zu werden. Für das Scheidende habe ich mehr als reichen Ersatz. Ohne ihn, den heutigen Tag, würde mir mein Herzle nur ein liebes, liebes Weible werden, weiter nichts. Sie hat mir aber mehr, viel mehr zu werden, und ich ihr ebenso. Ich weiß, daß ihr mich nicht versteht; verstehe ich mich doch selbst noch nicht genau! Aber bis zum ersten Ausstellungsmorgen werde ich
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