Die Zeit-Odyssee
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DIE SUCHERIN
Dreißig Millionen Jahre lang war der Planet
abgekühlt und ausgetrocknet, bis im Norden Eisschollen an
die Kontinente zu drängen begannen. Der Waldgürtel, der
sich einst fast ohne Unterbrechung von der Atlantikküste
quer über Afrika und Eurasien bis in den Fernen Osten
erstreckt hatte, war bereits zu einem immer weiter schrumpfenden
Stückwerk zerfallen. Die Lebewesen, die früher dieses
zeitenlose Grün bewohnt hatten, waren gezwungen, sich
anzupassen oder wegzuziehen.
Die Artgenossen der Sucherin hatten beides getan.
Ihr Kleines an der Brust festgeklammert, kauerte die Sucherin
im Schatten am äußersten Rand des Waldstücks. Die
tief liegenden Augen spähten unter dem Knochenwulst hervor
in die Helligkeit hinaus. Das Land außerhalb des Waldes war
eine weite Ebene, gebadet in Licht und Hitze. Es war ein Ort
erschreckender Schlichtheit, wo der Tod rasch und unvermittelt
kam. Aber es war auch ein Ort, der Möglichkeiten bot. Eines
Tages würde dieser Ort das Grenzland zwischen Pakistan und
Afghanistan sein, von manchen »Nordwestgrenze«
genannt.
Heute jedoch lag nicht weit vom ausgefransten Rand des Waldes
entfernt ein Antilopenkadaver auf dem Boden. Das Tier war noch
nicht lange tot – aus den Wunden drang immer noch
dickliches Blut –, aber die Löwen hatten sich bereits
satt gefressen, und die anderen Aasfresser der Grasebene –
Hyänen und Vögel – hatten den Kadaver noch nicht
entdeckt.
Die Sucherin streckte die Beine, stand aufrecht da und blickte
sich um.
Die Sucherin war ein Primatenweibchen. Ihr von dichtem,
schwarzem Haarwuchs bedeckter Körper maß kaum mehr als
einen Meter, und sie hatte nur wenig Fett unter der schlaffen
Haut. Ihr Gesicht war zu einer Schnauze vorgezogen, und die
Gliedmaßen waren Relikte eines Lebens als Baumbewohner: Sie
hatte lange Arme und kurze Beine. Eigentlich sah sie aus wie ein
Schimpanse, doch die Abspaltung ihrer Art von diesen Vettern aus
dem tieferen Urwald lag bereits mehr als drei Millionen Jahre
zurück. Die Sucherin fühlte sich durchaus wohl, so
aufrecht stehend; sie war ein echter Zweibeiner, und ihre
Hüften und ihr Becken waren menschenähnlicher als die
jedes Schimpansen.
Die Sucherin und ihre Artgenossen waren in erster Linie
Aasfresser – und nicht besonders erfolgreiche. Aber sie
verfügten über einen Vorteil, den kein anderes Tier auf
der Welt vorweisen konnte. Geborgen im Kokon des keinerlei Wandel
unterworfenen Urwaldes würde kein Schimpanse je so komplexes
Werkzeug wie die einfache, jedoch mühsam hergestellte Axt
erschaffen, die die Sucherin in ihren Fingern hielt. Und da war
noch etwas: das Blitzen in ihren Augen, mit dem kein Menschenaffe
konkurrieren konnte.
Es gab kein Anzeichen einer unmittelbaren Gefahr, und sie trat
kühn hinaus in den Sonnenschein; das Kind klammerte sich an
ihre Brust. Zögernd, einer nach dem anderen folgte ihr der
Rest der Gruppe – entweder aufrecht auf zwei Beinen oder
nach Affenart unter Zuhilfenahme der Fingerknöchel. Das
Kleine quiekte und krallte sich schmerzhaft in das Fell der
Mutter. Die Artgenossen der Sucherin kannten keine Namen –
die Sprache dieser Lebewesen war kaum anspruchsvoller als der
Gesang der Vögel –, aber seit dem Moment seiner Geburt
hatte dieses Baby, das zweite der Sucherin, eine enorme Kraft an
den Tag gelegt, wenn es galt, sich an der Mutter festzuhalten,
und wenn die Sucherin ihre Tochter ansah, dachte sie dabei an
etwas wie »Klammerchen«.
Behindert durch das Kind war die Sucherin eine der Letzten,
die bei der Antilope anlangten, und die anderen hackten bereits
mit ihren Steinsplittern an den Sehnen und der Haut herum, die
die Beine des Tieres mit dem übrigen Körper verbanden.
Diese Metzelei gab ihnen die Möglichkeit, sich
möglichst schnell des Fleisches zu bemächtigen: Die
Gliedmaßen konnten rasch in die relative Sicherheit des
Waldes zurückgeschleppt und dort in aller Ruhe verspeist
werden. Lustvoll beteiligte sich die Sucherin an der Arbeit,
obwohl ihr das grelle Sonnenlicht unangenehm war. Eine weitere
Million Jahre würde vergehen, ehe entfernte, erheblich
menschlicher wirkende Nachkommen der Sucherin sich dauernd den
direkten Strahlen der Sonne aussetzen konnten – in
Körpern mit der Fähigkeit, zu schwitzen und
Feuchtigkeit in Fettreserven zu speichern, in Körpern wie
Raumanzügen für ein Überleben in der Savanne.
Das weltweite Schrumpfen der Wälder
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