Veni, Vidi, Gucci
21
I ch bin so sehr in Gedanken versunken, dass ich, als ich das Gesicht der Frau wahrnehme, im ersten Moment Mitleid verspüre. Als mir gleich darauf klar wird, dass ich gerade mein eigenes Spiegelbild sehe, weicht das Mitleid purem, nacktem Entsetzen.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich gehöre nicht einer Gemeinschaft wie den Amish People an, bei denen alles, worin man sich spiegeln kann, verboten ist. Ich weiß, wie ich aussehe; es ist nur so, dass ich es nicht glauben kann. Mein Spiegelbild hat mich eiskalt erwischt, und ich bin fassungslos. Die nach unten zeigenden Mundwinkel, die bläulich grauen Tränensäcke, der Ansatz eines Doppelkinns, die Haare ... vor allem die Haare! Ich ziehe meine Mütze tiefer ins Gesicht, um die spröden Borsten, die zornig hervorragen, zu verdecken. Ich richte gerade meinen Kragen, der halb nach oben und halb nach unten geklappt ist, als mich eine Stimme zusammenfahren lässt.
»Ich sagte, Verzeihung«, bemerkt ein junger Mann - der noch ein Schuljunge sein könnte - offenbar nicht zum ersten Mal. Mir wird bewusst, dass ich mitten vor einem Ladeneingang stehe. »Alles in Ordnung?«, fragt er. Er trägt ein Namensschild. Ich nehme an, er arbeitet in diesem Geschäft. »Es ist nur so, dass Sie schon eine ganze Weile hier stehen und auf unser Schild starren.«
»Ach so, ja, sorry«, murmle ich, ohne zu wissen, wofür ich mich entschuldige und wovon er redet.
Dann sehe ich es. Hinter meinem Spiegelbild in der Schaufensterscheibe hängt ein Schild mit der Aufschrift »Räumungsverkauf«. In der Auslage liegen Sportschuhe. Allerdings verkaufen die hier keine richtigen Sportschuhe, sondern farbenfrohe Parodien mit mangelhaftem Knöchelschutz und Plateauabsätzen der Siebziger. Zum Totlachen. Weshalb soll ich darüber traurig sein, dass ein Laden schließt, der Pseudo-Turnschuhe mit Glitzersteinen und Schnürsenkeln in allen Regenbogenfarben verkauft? Ganz richtig, genau meine Meinung.
Erst letzte Woche habe ich wie eine Besessene den Schuhschrank ausgemistet und sämtliche Modeturnschuhe weggeworfen. Fünf Paar, zehn Schuhe. Danach fühlte ich mich wesentlich besser. Ich habe das getan, weil ich es wollte, und nicht, weil ein Kind in der Schule neulich genau solche Turnschuhe anhatte, wie ich sie auch besaß, und eine der anderen Mütter bemerkte, dass die »Schuhmode für Teenies« immer alberner werde.
»Übrigens, Ihre Mütze.« Der junge Verkäufer sieht mich immer noch an. »Limited Edition, nicht wahr? Für so eine würde meine Schwester glatt unsere Oma umbringen. Wo haben Sie die her?«
»Von Selfridges«, antworte ich und ziehe unbewusst den Schirm meiner strassbesetzten Missy-Elliott-Mütze tiefer ins Gesicht, um meine Lüge zu verbergen.
»Sie machen einen Witz, nicht? Die Kollektion war doch sofort ausverkauft. Haben Sie vielleicht besondere Connections oder so?«
Gestatten, Fran Clark, Muse von Missy Elliott. Es ist nur wenigen bekannt, dass Missy (wie ihre engsten Freunde sie nennen) das Design der exklusiven, mit Strass verzierten Baseballmütze anhand eines Modells von Frans Kopf entworfen hat.
Wohl kaum.
Die Wahrheit ist, dass mein Mann sich die Mütze unter den Nagel gerissen hat, um sie mir zu schenken (wie auch meine ganzen »Turnschuhe«, die ich weggeschmissen habe). Er arbeitet nämlich für eine Marketingfirma, zu deren Kunden Adidas zählt – deren Werbepartnerin Missy Elliott ist. Schon paradox, dass ein Designerstück aus einer limitierten Sonderkollektion, das für – und zwar ausschließlich für – modebewusste Teens entworfen wurde, auf dem Kopf einer nicht mehr ganz so jungen Mutter landet. Meine unverdienten Privilegien waren mir auf einmal peinlich. Die Schwester dieses Jungen würde bereitwillig eine enge Verwandte umbringen für ein modisches Accessoire, um das ich nie gebeten hatte und das ich – wie Trinny und Susannah immer hämisch bemerken – definitiv nicht tragen sollte.
Einen Moment lang überlege ich, ob ich sagen soll, dass ich tatsächlich über die richtigen »Connections« (Modedealer, nicht Drogendealer) verfüge, lasse es dann aber. Ich murmle schließlich: »Nein, ich hatte wohl Glück, schätze ich.«
Der Junge grinst mich an und zeigt mir seine Zahnspange. Wie alt mag er sein? »Und Sie sind sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragt er. »Sie wirken nämlich ein bisschen, na ja, verloren.«
Ich sehe ihn an, und er wirkt so niedlich und verletzlich, dass mir die Ungerechtigkeit dieser Welt mit einem Mal bitter
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