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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Weihnachtsglanz standen. Der Vater schwärmte mit. Die Mutter war stillglücklich. Großmutters alte, treue Augen strahlten. Als wir endlich zur Ruhe gegangen waren, lag ich noch lange Zeit wach im Bett und hielt Rechenschaft über mich. Meine innere Unklarheit wurde mir zum ersten Mal wirklich bewußt. Ich sah die Abgründe hinter mir gähnen, vor mir aber keinen mehr, denn mein Weg schien zwar schwer und mühevoll, aber völlig frei zu sein: Schriftsteller werden; Großes leisten, aber vorher Großes lernen! Alle inneren Fehler, welche die Folgen meiner verkehrten Erziehung waren, nach und nach herauswerfen, damit Platz für Neues, Besseres, Richtigeres, Edles werde! In diesen Gedanken schlief ich ein, und als ich früh erwachte, war der Vormittag schon fast vorüber, und ich mußte nach dem Hohensteiner Christmarkt, um noch einige kleine Einkäufe zur Bescherung für die Schwestern zu machen. Dort traf ich einen Gendarm, der mich fragte, ob ich der Lehrer May sei. Als ich dies bejahte, forderte er mich auf, mit ihm nach dem Rathaus zu kommen, zur Polizei, wo man eine Befragung für mich habe. Ich ging mit, vollständig ahnungslos. Ich wurde zunächst in die Wohnstube geführt, nicht in das Bureau. Da saß eine Frau und nähte. Wessen Frau, darüber bitte ich, schweigen zu dürfen. Sie war eine gute Bekannte meiner Mutter, eine Schulkameradin von ihr, und sah mich mit angstvollen Augen an. Der Gendarm gebot mir, mich niederzusetzen, und ging für kurze Zeit hinaus, seine Meldung zu machen. Das benutzte die Frau, mich hastig zu fragen:
    „Sie sind arretiert! Wissen Sie das?“
    „Nein“, antwortete ich, tödlich erschrocken. „Warum?“
    „Sie sollen Ihrem Mietskameraden seine Taschenuhr gestohlen haben! Wenn man sie bei Ihnen findet, bekommen Sie Gefängnis und werden als Lehrer abgesetzt!“
    Mir flimmerten die Augen. Ich hatte das Gefühl, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen. Ich dachte an den gestrigen Abend, an meine Gedanken vor dem Einschlafen, und nun plötzlich Absetzung und Gefängnis!
    „Aber die ist ja gar nicht gestohlen, sondern nur geborgt!“ stammelte ich, indem ich sie aus der Tasche zog.
    „Das glaubt man Ihnen nicht! Weg damit! Geben Sie sie ihm heimlich wieder, doch lassen Sie sie jetzt nicht sehen! Schnell, schnell!“
    Meine Bestürzung war unbeschreiblich. Ein einziger klarer, ruhiger Gedanke hätte mich gerettet, aber er blieb aus. Ich brauchte die Uhr einfach nur vorzuzeigen und die Wahrheit zu sagen, so war alles gut; aber ich stand vor Schreck wie im Fieber und handelte wie im Fieber. Die Uhr verschwand, nicht wieder in der Tasche, sondern im Anzug, wohin sie nicht gehörte, und kaum war dies geschehen, so kehrte der Gendarm zurück, um mich abzuholen. Mache ich es mit dem, was nun geschah, so kurz wie möglich! Ich beging den Wahnsinn, den Besitz der Uhr in Abrede zu stellen; sie wurde aber, als man nach ihr suchte, gefunden. So vernichtete mich also die Lüge, anstatt daß sie mich rettete; das tut sie ja immer; ich war ein – Dieb! Ich wurde nach Chemnitz vor den Untersuchungsrichter geschafft, brachte die Weihnachtsfeiertage anstatt bei den Eltern hinter Schloß und Riegel zu und wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt. Ob und womit ich mich verteidigt habe; ob ich zur Berufung zur Appellation, zu irgendeinem Rechtsmittel, zu einem Gnadengesuch, zu einem Anwalt meine Zuflucht nahm, das weiß ich nicht zu sagen. Jene Tage sind aus meinem Gedächtnis entschwunden, vollständig entschwunden. Ich möchte aus wichtigen psychologischen Gründen gern alles so offen und ausführlich wie möglich erzählen, kann das aber leider nicht, weil das alles infolge ganz eigenartiger, seelischer Zustände, über die ich im nächsten Kapitel zu berichten haben werde, aus meiner Erinnerung ausgestrichen ist. Ich weiß nur, daß ich mich vollständig verloren hatte und daß ich mich dann in der Pflege der Eltern und besonders der Großmutter wiederfand. Als ich mich mühsam erholt hatte und wieder kräftig genug auf den Beinen war, bin ich nach Altchemnitz gegangen, um mein beschädigtes Gedächtnis wieder aufzufrischen. Es war in Beziehung auf die Örtlichkeiten vergebens; ich erkannte nichts, weder die Fabrik, noch meine damalige Wohnung, noch irgendeine Stelle, an der ich ganz unbedingt gewesen war. Aber plötzlich stand er vor mir, mein Wohnungsgenosse, der Buchhalter. Er kam mir auf der Straße entgegen und hielt den Schritt an, als wir uns erreichten. Den

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